Gemeinsame Empfehlung der in der BAGFW kooperierenden Verbände zum Umgang mit der angemessenen Vergütung des Unternehmerrisikos gemäß § 84 Abs. 2 Satz 4 SGB XI

Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 29. Januar 2009 (Az. B 3 P 7/08 R u. a.) klargestellt, dass Pflegesätze und Entgelte im Bereich der sozialen Pflegeversicherung nur dann leistungsgerecht sind, wenn sie die Kosten einer Pflegeeinrichtung hinsichtlich der voraussichtlichen Gestehungskosten unter Zuschlag einer angemessenen Vergütung ihres Unternehmerrisikos und eines etwaigen zusätzlichen persönlichen Arbeitseinsatzes sowie einer angemessenen Verzinsung ihres Eigenkapitals decken.

Mit dem Dritten Pflegestärkungsgesetz (PSG III) hat der Gesetzgeber den Anspruch der Pflegeeinrichtung auf eine angemessene Vergütung des Unternehmerrisikos zum 01. Januar 2017 ausdrücklich in § 84 Abs. 2 Satz 4 SGB XI aufgenommen. Nach der Gesetzesbegründung erfolgt dies in Anerkennung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, welche somit zur Auslegung des Gesetzes ergänzend heranzuziehen ist.

Wie die Vergütung des Unternehmerrisikos zu bemessen ist, hat der Gesetzgeber bewusst der Aushandlung der Vertragspartner und im Streitfall der Entscheidung der Schiedsstelle im Verfahren nach § 85 Abs. 5 Satz 1 überlassen. In der Praxis sowie in der unterinstanzlichen Rechtsprechung besteht Unsicherheit, wie die angemessene Vergütung des Unternehmerrisikos zu benennen, zu bemessen und auszugestalten ist. Bislang wird die Vergütung des Unternehmerrisikos in den Vergütungsvereinbarungen selten anerkannt. Wird sie anerkannt, so ist in der Regel streitig, ob sie der Höhe nach die zu deckenden allgemeinen Unternehmerrisiken adäquat abbildet.

Es wurden mittlerweile verschiedene Handreichungen und Studien zum Thema veröffentlicht. Im Folgenden möchten die in der BAGFW kooperierenden Verbände zu den offenen Fragen gemeinsame Empfehlungen abgeben. Ziel ist es, einen bundeseinheitlichen Umgang mit der Thematik, insbesondere mit Blick auf gleichartige Regelungen in den Landesrahmenvereinbarungen zu fördern.


A. Abgrenzung zu den betrieblichen Einzelrisiken und Begriffsklärung

Das Bundessozialgericht unterscheidet die allgemeinen Unternehmerrisiken (vgl. B.) von den im Einzelfall möglicherweise drohenden Risiken und Unsicherheiten über die Höhe der künftig tatsächlich anfallenden Kosten der Einrichtungen, welche die Pflegeeinrichtungen im Rahmen der prospektiven Gestehungskosten plausibilisieren müssen (vgl. C. sowie zu den Unterschieden B. I.). Sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundessozialgericht verwenden dabei verschiedene Begriffe für die gleichen oder unterschiedlichen Sachverhalte wie z.B. Wagnis(se), Risiko, Gewinnchance, Gewinnzuschlag etc.

Zur Vermeidung von Missverständnissen legt sich die BAGFW auf folgende einheitliche Begrifflichkeiten fest:

 

  • Wagniszuschlag: für die Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos und
  • Betriebliche Einzelrisiken für die drohenden Risiken und Unsicherheiten über die Höhe der künftig tatsächlich anfallenden Kosten der einzelnen Einrichtung, die im Rahmen der prospektiven Gestehungskosten zu berücksichtigen sind.


B. Wagniszuschlag (Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos)

I. Zielsetzung

Das Bundessozialgericht leitet den Anspruch auf eine angemessene Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos aus dem Grundsatz der prospektiven Leistungsentgelte aus § 84 Abs. 2 Satz 6 SGB XI in der aktuellen Fassung ab (vgl. BSG, E. v. 16.05.2013, Az. B 3 P 2/12 R, Rn. 26-28) . Danach verbleiben der Pflegeeinrichtung zwar Überschüsse; Verluste sind hingegen von ihr zu tragen. Aus diesem Grundsatz folgert das Bundessozialgericht, dass „der Unternehmergewinn die Kehrseite der unternehmerischen Wagnisse eines Pflegeheimträgers ist“ (vgl. BSG, ebd., Rn. 27). Die Pflegesätze und Entgelte sind dementsprechend so zu bemessen, dass die Pflegeeinrichtung bei ordnungsgemäßer Betriebsführung einen angemessenen Unternehmensgewinn erwirtschaftet, wenn sich die allgemeinen Verlustrisiken nicht realisieren. Zu den allgemeinen Verlustrisiken zählt das Bundessozialgericht beispielhaft und damit nicht abschließend:

·         die Folgen einer schlechten gesamtwirtschaftlichen Lage sowie

·         die Folgen von unwirtschaftlichem Verhalten und von unternehmerischen Fehlentscheidungen, eines Überangebotes am Markt oder eines unzureichenden Leistungsangebotes, zum Beispiel aufgrund der Nachfrageentwicklung.

Die allgemeinen Verlustrisiken sind nach dem Bundessozialgericht immer dann gegeben, wenn ein Unternehmer am Markt tätig wird. Sie müssen nicht plausibilisiert werden.

Auch unter allgemeinen betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist es selbstverständlich, dass Preise für eine Leistung die Möglichkeit eröffnen müssen, Überschüsse bzw. einen Gewinn zu erzielen. Die Gewinnchance ist die Grundlage einer auskömmlichen Finanzierung. Ohne sie hätte ein Unternehmen keine Möglichkeit, Rücklagen zu bilden und würde langfristig Verluste machen. Die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit und die Möglichkeit der strategischen Weiterentwicklung wären dem Unternehmen genommen.

Das gilt für privat-gewerbliche ebenso wie für gemeinnützige Träger. Der Unterschied bei gemeinnützigen Trägern liegt lediglich in der Verwendung der erzielten Überschüsse. Eine Gewinnentnahme zur Mehrung des Privatvermögens der Anteilseigner ist bei gemeinnützigen Unternehmen ausgeschlossen. Hingegen sind sie durch die Abgabenordnung dazu verpflichtet, ihre Gewinne zeitnah und ausschließlich entsprechend ihrer gemeinnützigen Satzungsvorgaben und somit zur Förderung des Gemeinwohls zu verwenden.

In Gegensatz zu den allgemeinen Unternehmerrisiken sieht das Bundessozialgericht die im Einzelfall möglicherweise drohenden Risiken und die Unsicherheiten über die Höhe der künftig tatsächlich anfallenden Kosten der Einrichtungen (sog. betriebliche Einzelrisiken wie z. B. Preisschwankungen, systematische Auslastungsbeschränkung durch Bewohnerfluktuation, Forderungsausfall). Diese sind im Rahmen der prospektiven Pflegesatzverhandlung wie sonstige Gestehungskosten zu plausibilisieren und zu berücksichtigen, sofern sie nicht durch Versicherungen gedeckt sind (wie in der Regel Feuergefahr, Diebstahl oder Unfälle). Die Plausibilisierung erfolgt „anhand konkreter Erfahrungswerte in der Vergangenheit oder sonstiger nachvollziehbarer Anhaltspunkte [dafür], dass Kosten in solcher Höhe im Durchschnitt mehrerer Jahre beim Betrieb einer wirtschaftlich operierenden Pflegeeinrichtung voraussichtlich anfallen werden“ (vgl. BSG, ebd., Rn. 28).

Entsprechend der Rechtsprechungsvorgaben sehen die jüngsten Studien den Hauptunterschied zwischen dem allgemeinen Unternehmerrisiko und den betrieblichen Einzelrisiken darin, dass die betrieblichen Einzelrisiken in unmittelbarem Zusammenhang zum betrieblichen Leistungsprozess stehen. Auch sie treten aperiodisch auf, sind aber mit einer erheblich höheren Wahrscheinlichkeit zu erwarten als die Verwirklichung des allgemeinen Unternehmerrisikos.[1]

II. Form

In welcher Form den Pflegeeinrichtungen eine Vergütung ihres allgemeinen Unternehmerrisikos einzuräumen ist, hat das Bundessozialgericht der Aushandlung der Vertragspartner bzw. im Streitfall der Entscheidung der Schiedsstelle (nach billigem Ermessen) überlassen. In Betracht kommt beispielsweise ein fester prozentualer Zuschlag auf den Umsatz (der sog. Wagniszuschlag) oder die Vereinbarung einer hinreichend großzügigen Auslastungsquote.

 

Die BAGFW spricht sich ausdrücklich für eine Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos über einen festen prozentualen Zuschlag aus (siehe zur Bemessung Abschnitt IV), da ein fester Prozentsatz mehr Planungssicherheit als eine Steuerung über die Auslastungsquote bietet.

 

Eine Verknüpfung der Auslastungsquote mit der Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos ist nicht zu empfehlen. Zwar können auch allgemeine Unternehmerrisiken, etwa Nachfrageschwankungen, Einfluss auf die Auslastung haben, aber die Auslastungsquote dient in erster Linie dazu, die voraussehbaren Auslastungsrisiken einer Pflegeeinrichtung abzubilden, die sich aperiodisch mehr oder weniger stark verwirklichen, etwa durch Bewohnerfluktuation. Das allgemeine Unternehmerrisiko zusammen mit betrieblichen Einzelrisiken in einer Bezugsgröße abzuhandeln, ist weder praktikabel noch transparent. Die Realisierung von betrieblichen Einzelrisiken hätte dann Auswirkungen auf die Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos. Die Auslastungskomponente kann jedoch ergänzend herangezogen werden, insbesondere dann, wenn sie historisch bedingt mit der Vergütungssystematik des jeweiligen Bundeslandes besser vereinbar ist und auf mehr Akzeptanz seitens der Kostenträger trifft. Ob die Auslastungsquote grundsätzlich als Instrument für die Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos geeignet ist, sollte jedoch auf Landesebene zwischen der Fachebene und den Pflegesatzverhandlern diskutiert werden. Es wird empfohlen, im Zuge der Einführung der Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos die in den Bundesländern vereinbarten Auslastungsquoten zu überprüfen.

 

III. Bemessungsgrundlage

Wie vom Bundessozialgericht vorgegeben, empfiehlt die BAGFW den Zuschlag auf den über die Pflegevergütung und die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung generierten Umsatz der Einrichtungen zu berechnen.

 

Die Einnahmen einer Pflegeeinrichtung aus der Investitionskostenumlage haben bei der Berechnung des Wagniszuschlages außer Betracht zu bleiben (vgl. BSG Urteile vom 08.09.2011, Az. B 3 P 2/11 R u. a.). Dementsprechend ist das Überschussinteresse für das anderweitig nicht refinanzierte Einbringen von Vermögensgegenständen im Sinne der Eigenkapitalverzinsung nicht im Rahmen der Investitionskosten (§ 82 Abs. 3 SGB XI), sondern ausschließlich bei der prospektiven Kalkulation der Gestehungskosten der Pflegevergütung sowie der Kosten für Unterkunft und Verpflegung zu berücksichtigen (siehe hierzu C.).


IV. Bemessung / Höhe des Wagniszuschlages

Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wird klar, dass einrichtungsindividuelle Nachweise für das allgemeine Unternehmerrisiko weder beigebracht werden können noch müssen. Eine einrichtungsindividualisierte Bemessung der Höhe des Wagniszuschlages ist nicht möglich.

 

Die BAGFW empfiehlt daher, bei der Bemessung auf allgemeingültige bzw. anerkannte Kennzahlen und Methoden zurückzugreifen. Hierbei ist es sinnvoll, neben den für die gesamtdeutsche Wirtschaft geltenden Daten auch die für die Pflegebranche typischen Unternehmerrisiken in den Blick zu nehmen (z. B. Folgen zahlreicher Gesetzesänderungen, erhöhter Krankenstand unter den Pflegekräften etc.).

 

Hinsichtlich der Kennzahlen und Methoden wird auf jüngst veröffentlichte Handreichungen und Studien zum Thema verwiesen. So veranschlagt das Diskussionspapier des Deutschen Caritasverbandes e. V. auf der Grundlage einer allgemeinen und brachenübergreifenden Betrachtung den Wagniszuschlag mit 4 Prozent (vgl. Diskussionspapier des Deutschen Caritasverbandes e. V., „Risikozuschlag in den Pflegesatzverhandlungen“, 2017). In der IEGUS Studie wird unter Berücksichtigung einer breiteren Datenbasis und branchenspezifischer Faktoren in der Pflege ein Wagniszuschlag 4,84 bis 5,62 Prozent, als angemessen bewertet, je nach Bundesland und Zugehörigkeit zu „besonderen Regionen“ (vgl. IEGUS Studie, 2018, a. a. O.).


C. Betriebliche Einzelrisiken

Wie unter A. I. dargestellt, sind neben dem Zuschlag für die Vergütung des allgemeinen Unternehmerrisikos die konkreten betrieblichen Einzelrisiken einer Pflegeeinrichtung bei den jeweiligen Kostenpositionen einzupreisen. Zu den betrieblichen Einzelrisiken gehört auch die angemessene Verzinsung von eingesetztem Eigenkapital. Zu verzinsen ist dabei auch das eingebrachte Eigenkapital für investive Anlagegüter, soweit die Verzinsung nicht in die Berechnung der Investitionskostenumlage eingeflossen ist, insbesondere für eingebrachte Grundstücke. Das Bundessozialgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass die Tatsache, dass Grundstücke weder über die Pflegesätze noch über die Investitionskostenumlage refinanziert werden können, nichts daran „ändert […], dass die Einrichtung auch insoweit zu Zwecken des Pflegebetriebs Eigenkapital einsetzt und ihr deshalb […] ein schützenswertes Interesse an dessen angemessener Verzinsung zustehen kann“ (vgl. BSG Urteile vom 08.09.2011, Az. B 3 P 2/11 R, Rn. 43 letzter Satz). Dieses hat die Einrichtung im Rahmen des § 82 Abs. 1 SGB XI bei der prospektiven Kalkulation der Gestehungskosten der Pflegevergütung sowie der Entgelte für Unterkunft und Verpflegung zu verfolgen (vgl. BSG, Rn. 45).

 

Die BAGFW empfiehlt den Einrichtungen, sich in den Vergütungsverhandlungen an den typischerweise bei Pflegeeinrichtungen vorkommenden spezifischen betrieblichen Risiken zu orientieren (vgl. z. B. Aufzählung sowie Umsetzungsempfehlungen der IEGUS-Studie, insbes. Anhang zur „Quantifizierung betrieblich-spezifischer Einzelwagnisse: Ergebnisse der Datenerhebung“).

 

Die betrieblichen Einzelrisiken sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich einrichtungsindividuell zu evaluieren und zu plausibilisieren. Das stellt für viele Einrichtungen eine besondere Herausforderung dar. Hierunter fallen zum Beispiel kleinere Einrichtungen sowie Einrichtungen, die neu am Markt tätig sind. Die BAGFW hält es für einen denkbaren Weg, auf Landesebene im Rahmen der Selbstverwaltung einen pauschalen Zuschlag auch für die betrieblichen Einzelrisiken zu vereinbaren. Dies würde gerade den kleineren und neueren Pflegeeinrichtungen, aber auch den Leistungsträgern einen hohen Verwaltungsaufwand ersparen. Es müsste hierbei – wie bei der pauschalen Fortschreibung – jedoch der Vorrang der Einzelvereinbarung sichergestellt werden. Das bedeutet, dass es jeder Einrichtung offen stehen muss, ihre individuell höheren betrieblichen Einzelrisiken zu plausibilisieren und nachzuweisen.



[1]              vgl. Studie des Instituts für europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft GmbH (IEGUS) in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Organisationsentwicklung GmbH (contec) im Auftrag des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste e. V. (bpa), „Unternehmerisches Wagnis in der stationären Pflege: Rechtslage und Quantifizierung der Vergütung unter besonderer Berücksichtigung der Regelungen des dritten Pflegestärkungsgesetzes (PSG III)“, 2018, S. 23 Abb. 3; S. 65 ff.