Positionen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zur Entwicklung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens

Bei der hier vorliegenden Positionierung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zur Entwicklung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens kann auch zu diesem Zeitpunkt nur eine vorläufige Positionierung vorgenommen werden

0.            Vorbemerkung

Bei der hier vorliegenden Positionierung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zur Entwicklung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens kann auch zu diesem Zeitpunkt nur eine vorläufige Positionierung vorgenommen werden, da weiterhin die Ergebnisse der sogenannten Rothgangstudie zu den Auswirkungen des neuen Begutachtungsverfahrens u. a. zur zukünftigen Leistungsberechtigung von Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe noch nicht vorliegen.

1.            Das neue Begutachtungsverfahren

1.1         Das neue Begutachtungsverfahren hat eine hohe inhaltliche Gültigkeit
(Validität)

Nach sozialwissenschaftlicher Definition fragt man mit dem Kriterium „Gültigkeit“ (Validität) danach, ob ein Verfahren das misst, was es zu messen vorgibt. Das neue Begutachtungsverfah­ren, das derzeit erprobt wird und sich in einer Phase der sozialwissenschaftlichen Instrumenten­entwicklung befindet, erweist sich nach den bis heute vorliegenden Berichten der derzeitigen Begutachtungs­praxis inhaltlich weit überlegen. Es beruht auf einer theoretisch gesicherten Beg­riffserklärung und -ableitung. Die einzelnen Items und Module, die Einschätzungsvorgaben, die Skalen und Abstufun­gen sind inhaltlich begründet, logisch und nachvollziehbar und somit ist die Basis für die Gültigkeit (Validität) des Instruments gegeben. Das Konstrukt „Pflegebedürftigkeit“, das mit diesem Instru­ment abgebildet wird, entspricht somit den heutigen fachlichen Vorstellungen.

1.2         Die Objektivität und Zuverlässigkeit des neuen Begutachtungsverfahrens muss dringend verbessert werden.

Bei den Kriterien Objektivität und Zuverlässigkeit (Reliabilität) fragt man, ob das Verfahren die „wahre“ Pflegebedürftigkeit einer Person misst und zwar unabhängig von der Person des Begut­achters und unabhängig von den Rahmenbedingungen, in der das Verfahren durchgeführt wird.

Die Ergebnisse der Untersuchungen zur Instrumentenentwicklung lassen den Schluss zu, dass einzelne Items und die Durchführungsanweisung und -schulung verbessert werden muss. Die statistischen Kennwerte für die Zuverlässigkeit sind für ein Verfahren ungenügend, das die Grundlage für die Zuerkennung von sozialrechtlich begründeten Leistungsansprüchen ist. Da Objektivität und Zuverlässigkeit die Voraussetzung für die Gültigkeit sind, bedarf es insbesondere in den Modulen drei, fünf und sieben sowie bei den besonderen Bedarfskonstellationen dringend einer Nachbesserung. Auch sollte das Instrument nochmals hinsichtlich seiner Anwendbarkeit bei Kindern und seiner Aussagekraft zum Rehabilitationsbedarf optimiert werden. Es wäre äußert beklagenswert, wenn die inhaltlich begründeten, so vielversprechenden Werte für die Gültigkeit durch mangelnde Zuverlässigkeit des Instruments in Frage gestellt werden.

2.            Die Auswirkungen des neuen Konstrukts „Pflegebedürftigkeit“ auf die Leistungen der Pflegeversicherung anderer Sozialleistungssysteme

 

2.1         Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff erweitert die Gruppe der anspruchsberechtigten Personen

Das neue Begutachtungsverfahren hat als Grundlage einen neuen Pflegebedürftigkeitsbe-griff, der nicht mehr allein somatisch ausgerichtet ist. Auch der allgemeine Betreuungs- und Beaufsichti­gungsbedarf und die Schwierigkeiten der Alltagsbewältigung durch kognitive, kommunikative und psychische Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen werden einbezogen. Dadurch werden Menschen als pflegebedürftig eingeschätzt, die bisher nicht berücksichtigt wurden. Besonders Menschen mit so genannter eingeschränkter Alltagskompetenz haben die Aussicht, nach dem neuen Verfahren in die Gruppe der Anspruchsberechtigten aufgenommen zu werden. Wenn dieser Personengruppe daraus auch ein Anspruch auf angemessene Leistung erwächst, sind die Forderungen erfüllt, für die sich die Wohlfahrtsverbände schon seit der Einführung der Pflegeversicherung eingesetzt haben.

2.2         Erfordernisse an eine leistungsrechtliche Umsetzung

Das neue Begutachtungsverfahren verändert und erweitert die Personengruppe der Anspruchsbe­rechtigten. Nach den in Auftrag gegebenen Berechnungen würde diese Erweiterung eine Leistungsausdehnung bewirken, die erhebliche Auswirkungen auf den Beitragssatz der Pflegeversicherung hätte. Es bieten sich unserer Ansicht nach verschiedene Optionen zur Lösung der Problematik an:

- Erhöhung der Beitragssätze für die Pflegeversicherung

- veränderte Zugangsmöglichkeiten

- veränderte Spreizungen zwischen den Pflegestufen

Zur Lösung der Problematik bedarf es eines intensiven gesellschaftlichen Diskurses und Verständi­gungsprozesses und entsprechender politischer Entscheidungen. Die Verteilung der Zuordnung zu Pflegestufen nach dem heutigen Begutachtungsverfahren ist nicht vergleichbar mit der Verteilung des Grads der Abhängigkeit von personaler Unterstützung nach dem neuen Verfahren. Darum kann dieser erforderliche Diskurs nicht auf der Grundlage der bisherigen Untersuchungsergebnisse stattfinden. Dazu müssen durch neue einschlä­gige wissenschaftliche Untersuchungen Szenarien aufbereitet werden, um gültiges Datenmaterial und fundierte Berechnungen für begründete Entscheidungen zur Verfügung zu stellen.

2.3         Die schon erreichte Verbesserung für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompe­tenz muss erhalten bleiben.

Bei der Neuausrichtung und Verteilung der Leistungssätze müssen die Leistungsverbesserungen aus dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz nach §§ 45a ff SGB XI und § 87b SGB XI erhalten bleiben. Hinter diese Reform darf auch die Neukonstruktion des Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht zurück fallen.

2.4         Keine Kürzungen der Häuslichen Krankenpflege nach SGB V

Das Modul 5 „Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen“ weist Überschneidungen mit der ärztlich verordneten häuslichen Krankenpflege auf. So wird der perso­nale Hilfebedarf bei Leistungen, die im Leistungskatalog der häuslichen Krankenpflege enthalten sind, auch einstufungsrelevant für die Pflegeversicherung. Dies darf nicht dazu führen, dass der Anspruch auf Leistungen der häuslichen Krankenpflege, häuslichen psychiatrischen Krankenpflege und Soziotherapie sowie der ambulanten Palliativversorgung eingeschränkt wird. Insofern muss im Pflegebedürftigkeitsbegriff klar gestellt werden, dass die Leistungen nach §§ 37 sowie 37a und b SGB V unberührt bleiben.

2.5         Hilfebedarfe im Bereich der Haushaltsführung

Die Konstrukteure des neuen Begutachtungsverfahrens betonen immer wieder, dass sich die Nichtberücksichtigung der hauswirt­schaftlichen Versorgung/Haushaltsführung bei der Begutachtung nicht auf den Leistungsbezug auswirken wird. Bekanntlich sind Einschränkungen in der Haushaltsführung die ersten Zeichen für die Ab­hängigkeit von personeller Hilfe. Darum muss gewährleistet werden, dass Leistungen der Pflegeversicherung weiterhin den Unterstützungsbedarf bei der Haushaltsführung berücksichtigen bzw. Leistungsbestandteil der Pflegeversicherung bleiben, auch wenn die Begutachtung diesen Bereich nicht abfragt.

2.6         Bedarfsdeckung im SGB XII im Bereich der Pflege

Die im gegenwärtigen § 62 SGB XII festgeschriebene Bindungswirkung des Ausmaßes der Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch muss auch nach Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes erhalten bleiben. Die Regelung des gegenwärtigen § 61 Abs. 1 SGB XII, dass die Hilfe zur Pflege auch Kranken und behinderten Menschen zu leisten ist, die voraussichtlich für weniger als sechs Monate der Pflege bedürfen oder einen geringeren Bedarf als nach § 61 Abs.1 Satz 1 haben oder die der Hilfe für andere Verrichtungen bedürfen, und die im SGB XII festgeschriebene Bedarfsdeckung müssen auch nach Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes erhalten bleiben.

3.            Trägerübergreifende Verwendung des neuen Begutachtungsverfahrens

 

3.1         Das Verfahren ist nur modifiziert oder als Teil eines erweiterten Verfahrens für andere Leistungsgesetze verwendbar

Das neue Begutachtungsverfahren kann durch den verfolgten Ansatz nicht dazu verwendet wer­den, den Hilfe-, Teilhabe-, Rehabilitations- und Pflegebedarf zur Ermittlung des Anspruchs und der Leistungshöhe für verschiedene Personengruppen zu bestimmen. Dem steht nicht entgegen, dass das Verfahren in das Assessment für andere Leistungstatbestände einbezogen wird.

3.2         Teilhabebedarf nach SGB IX und / oder SGB XII

In der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen gibt es nach Bundesländern und teilweise nach zuständigen Sozialhilfeträgern unterschiedliche Verfahren der Ermittlung und Feststellung des so genannten Hilfebedarfs. Ein transparentes und vergleichbares Verfahren gibt es nicht und somit ist für manche Akteure in der Behindertenhilfe und Psychiatrie das Interesse an einem solchen Ver­fahren groß, wie es jetzt für den Pflegebedürftigkeitsbegriff erarbeitet wird. Die im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. zusammengeschlossenen Akteure haben sich nach einer Veranstaltung im Frühjahr darauf geeinigt, dass man nicht ein einheitliches Verfahren kreieren, sondern dass man sich auf gemeinsame, empirisch überprüfbare Kriterien einigen wolle, mit denen vorhandene oder noch zu entwickelnde Verfahren auf ihre Tauglichkeit überprüft werden können.

Erst wenn man sich auf Kriterien wie Überprüfbarkeit, Transparenz, sozialwissenschaftliche Güte­kriterien (Objektivität, Zuverlässigkeit und Gültigkeit des Verfahrens), Personorientierung, ange­messene Beteiligung des Antragstellers einigen wird, ist auch das neue Begutachtungsverfahren für den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sinnvoll anwendbar. Folgende Klarstellungen müssen dieser Aussage jedoch vorangestellt werden:

(1) Das neue Begutachtungsverfahren repräsentiert das Konstrukt „Pflegebedürftigkeit“ und nicht das Konstrukt „Teilhabebedürftigkeit“.

(2) Wie alle anderen Instrumente zur Ermittlung des Hilfe- oder Teilhabebedarfs kann auch das neue Begutachtungsverfahren nur eine Grundlage für die Verhandlung und Vereinbarung über den individuellen Bedarf und die daraus folgende Leistung des Antragstellers sein. Es gibt keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Punktwerten, die sich aus der Begutachtung ergeben, und den in Fachleistungsstunden oder in Geld zu definierenden Leistungen.

4.            Teilhabeorientierung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und das Abgrenzungs­problem zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach SGB XII

 

4.1         Selbstbestimmte, chancengerechte Teilhabe ist auch für pflegebedürftige Menschen ein Handlung leitendes Prinzip

Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsverfahren enthalten Elemente der Teilhabeorientierung. Insofern das Prinzip der selbstbestimmten und chancengerechten Teil­habe ein Grundprinzip des Sozialstaates ist, ist diese neue Sichtweise vorbehaltlos zu unterstüt­zen. 

 

4.2.      Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wird von einer teilhabeorientierten Pflege weder ersetzt noch ist sie eine bloß ergänzende Leistung zur Pflegeleistung

Bei der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen steht die Befähigung der Teilhabe am gesell­schaftlichen Leben und am Arbeitsleben im Vordergrund. Sie sind eigenständige Leistungen, die von einem erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriff unberührt bleiben müssen.

5.            Stellungnahme zu den Empfehlungen im Kapitel 3 des Berichtes des Beirats

 

5.1         Auswirkungen des Pflegebedürftigkeitsbegriffs auf andere Sozialleistungssysteme

Die Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege legen Wert auf die Festsstellung, dass sie die Position der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe nicht mit trägt, auch wenn diese Position als Anlage im Bericht des Beirats für die Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs beigefügt werden sollte.

5.2         Finanzielle Auswirkungen

Voll unterstützt wird die Forderung, dass das neue Begutachtungsverfahren nicht als Instrument zur Leistungskürzung genutzt werden darf. Richtig ist auch, dass die vorgelegten Rechenbeispiele in keiner Weise geeignet sind, jetzt Prognosen über Kostensteigerungen vorzulegen. Es fehlt jedoch eine Forderung, die hier schon unter 2.2 formuliert wurde: Es ist ein neuer Auftrag an ein wissenschaftliches Institut erforderlich, damit neue Berechnungen angestellt und unterschiedliche Szenarien auf der Grundlage der Daten entwickelt werden, die in der 1. Hauptuntersuchung erhoben worden sind. Dabei sollten auch Szenarien zur Diskussion gestellt werden, die eine andere Verteilung der bisherigen Leistungssätze vorschlagen.