Anforderungen an einen Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus Sicht der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW)

Seit nunmehr einem Jahr ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten und es gilt, sie in Deutschland in nationales Recht umzusetzen.

Gliederungsübersicht:

 

Einleitung

 

 

1. Anforderungen an die Prozessgestaltung

    1.1. Steuerung des Prozesses

    1.2. Prozessbeteiligte

    1.3. Verfahren zur Planung, Erarbeitung, Umsetzung, Evaluation

 

 

2. Inhaltliche Schwerpunktsetzungen

    2.1. Grundsätze der Inklusion

    2.2. Begriff der Behinderung und Zugang zu Leistungen   

    2.3. Rechts- und Handlungsfähigkeit

    2.4. Gesundheit

    2.5. Bildung

    2.6. Arbeit und Beschäftigung

    2.7. Barrierefreiheit/ vollumfängliche Zugänglichkeit

 

 

3. Anforderungen an die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans

 

 

Einleitung

 

Seit nunmehr einem Jahr ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten und es gilt, sie in Deutschland in nationales Recht umzusetzen. Mit dem Ziel, dass alle Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen von ihren Rechten Gebrauch machen können, stellt die Umsetzung der Konvention eine gesamtgesellschaftliche Querschnittaufgabe dar und enthält gleichzeitig Herausforderungen für zivilgesellschaftliches und (sozial-)politisches Handeln auf den unterschiedlichsten Ebenen.

 

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege begrüßen, dass die Bundesregierung zur Umsetzung der Konvention ein Konzept eines Nationalen Aktionsplanes (NAP) vorlegen möchte und die Gesamtverantwortung des Steuerungsprozesses dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter Beteiligung der Verbände behinderter Menschen übertragen hat.

 

 

 

Nach Auffassung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) stehen die mit der Umsetzung der Konvention erforderlichen gesamt- und zivilgesellschaftlichen Aufgaben in unmittelbarer Wechselwirkung mit den Kernaufgaben der Freien Wohlfahrtspflege. Angesichts der im SGB IX benannten Verbändestrukturen und geltenden Regelungen gemäß § 13 Abs. 6, § 19 Abs. 1, § 20 Abs. 3 und § 22 Abs. 1 SGB IX sehen die BAGFW-Mitgliedsverbände es als eine originäre (Selbst-) Verpflichtung an, sich gemeinsam mit den anderen Akteuren am Verfahren bzw. Umsetzungsprozess der Menschenrechtskonvention für Menschen mit Behinderungen zu beteiligen.

 

Die BAGFW trägt Verantwortung für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen, die auf die Unterstützung von Institutionen angewiesen sind, ebenso müssen sich die Dienstleistungen und Angebote der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege an den Maßstäben der UN-Behindertenrechtskonvention messen.

 

Die BAGFW möchte sich deshalb aufgrund ihrer vielfältigen zivilgesellschaftlichen Funktionen aktiv in den Prozess der Etablierung eines Nationalen Aktionsplanes einbringen. Die Mitgliedsverbände der BAGFW haben daher in einem ersten Arbeitsschritt aus ihrer Sicht wesentliche Anforderungen an den von der Bundesregierung angestrebten Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in nationales Recht  formuliert.

 

 

1. Anforderungen an die Prozessgestaltung

    1.1. Steuerung des Prozesses

    1.2. Prozessbeteiligte

    1.3. Verfahren zur Planung, Erarbeitung, Umsetzung, Evaluation

 

 

1.1. Steuerung des Prozesses

 

Die BAGFW-Verbände begrüßen, dass der Prozess der Umsetzung grundsätzlich inklusiv, demokratisch, transparent und auf Augenhöhe mit allen Beteiligten, insbesondere aber mit Menschen mit Behinderungen gemeinsam gestaltet werden soll. Weitere Punkte sind:

 

·         Die Prozessgestaltung ist mit einem entsprechenden Zeitplan/ Stufenplan zu unterlegen, der sich an der inhaltlichen Prioritätensetzung orientiert und mit allen Beteiligten abgestimmt sein muss.

 

·         Die unterschiedlichen optionalen Arbeitsformen wie z.B. Gremien, Arbeitsgruppen, Workshops, Konsultationen, Anhörungen etc. auf den verschiedenen Arbeits- und Beteiligtenebenen sind mit verbindlich geltenden Vereinbarungen z.B. zu ihren jeweiligen Arbeitsaufträgen, ihrer Verortung, ihren jeweiligen Funktionen und mit einer entsprechenden Befugnismatrix zu versehen.

 

·         Im Hinblick auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kommt der Abstimmung, Koordination und Zusammenführung zwischen den Aktionsplänen von Bund, Ländern und Kommunen besondere Bedeutung zu.

 

·         Weiterhin sind auf Bund-, Länder- und Kommunalebene entsprechende focal points in den  verschiedenen Ressorts einzurichten, um dem Auftrag der Querschnittaufgabe zu entsprechen.

 

 

1.2. Prozessbeteiligte

 

·         Inklusion bedeutet eine „Einladung“ an alle zivilgesellschaftlichen Akteur/innen, die sich in den Prozess einbringen wollen. Deshalb darf Inklusion niemanden ausschließen und muss die Möglichkeit einer Beteiligung auf breiter Basis für die Zivilgesellschaft, die Verbände und die öffentliche Hand sicherstellen. Dies muss sich in den Beteiligungs-, Verfahrens- und Arbeitsstrukturen abbilden.

 

·         Hierzu sind beispielsweise die vorhandenen Teilhabebeiräte (Behindertenbeiräte) sowohl auf Länderebene als auch vor Ort auf regionaler Ebene zu nutzen bzw. zu bilden, die eine gemeinsame Diskussionsplattform für alle beteiligten Akteure sind. Daraus ableitend sind verbindliche Arbeitsverabredungen zur strategischen und inhaltlichen Umsetzung anzustreben.

 

·         Darüber hinaus wird die bereits begonnene Kooperation mit der von der Bundesregierung beauftragten Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention begrüßt und sollte kontinuierlich fortgesetzt werden.

 

 

1.3. Verfahren zur Planung, Erarbeitung, Umsetzung, Evaluation

 

·         Die BAGFW begrüßt, dass sowohl ein Beirat, angesiedelt beim Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, wie auch ein Ausschuss, angebunden an das BMAS, zur Begleitung der Umsetzung des Nationalen Aktionsplanes eingerichtet werden sollen. Beide Gremien müssen mit entsprechenden Ressourcen von Seiten des BMAS wie auch des Behindertenbeauftragten begleitet werden. Ihre Implementierung sollte zügig erfolgen.

 

·         Im o.g. Ausschuss, der sich allein aus Betroffenen, nämlich den Interessenverbänden von Menschen mit Behinderungen zusammensetzt, sollten alle Menschen mit Behinderungen, insbesondere auch diejenigen, die nicht über den Deutschen Behindertenrat und Selbsthilfeverbände organisiert sind, vertreten sein. Da bisher diesbezüglich nur die Verbände des Deutschen Behindertenrates angesprochen werden sollen, fordert die BAGFW, weitere Akteure aus diesem Bereich, insbesondere die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege zu beteiligen. Diese vertreten ebenfalls eine große Zahl von Menschen mit Behinderungen.

 

·         Des Weiteren sind Qualitätsanforderungen i. S. von eindeutigen Kriterien zur Ausgestaltung und Überprüfbarkeit der Aktionspläne auf Bund-, Länder- und Kommunalebene zu entwickeln, zu beschreiben und verbindlich zu verabreden.

 

·         Die Abstimmungs- und Koordinationsmechanismen zwischen Bund-, Länder- und Kommunalebenen zum Aktionsplan der Bundesregierung sind verbindlich zu beschreiben und zu regeln.

 

 

 

2. Inhaltliche Schwerpunktsetzungen

    2.1. Grundsätze der Inklusion

    2.2. Begriff der Behinderung und Zugang zu Leistungen   

    2.3. Rechts- und Handlungsfähigkeit

    2.4. Gesundheit

    2.5. Bildung

    2.6. Arbeit und Beschäftigung

    2.7. Barrierefreiheit/ vollumfängliche Zugänglichkeit

 

 

2.1. Grundsätze der Inklusion

 

Inklusion ist ein kontinuierlicher Prozess, der Menschen mit Behinderungen die Chance gibt, in vollem Umfang an allen gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen, die auch Menschen ohne Behinderungen offen stehen. Jedem Menschen inhärent ist das „Recht auf volle gesellschaftliche Zugehörigkeit“. Wirksam wird dieses Konzept erst dann, wenn Menschen mit Behinderungen in ihrer vertrauten Lebenswelt das notwendige Maß an Unterstützung für ihre gesellschaftliche Teilhabe erhalten.

 

Inklusion will die bestehenden Strukturen, Einstellungen und Auffassungen dahingehend verändern, dass die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen die Normalität wird (diversity mainstreaming). Jeder Mensch soll die Unterstützung und Hilfe erhalten, die er oder sie für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benötigt.

 

Der Inklusionsgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention impliziert nach Ansicht der BAGFW eben nicht nur Schutz vor Diskriminierung, sondern darüber hinausgehend die aktive Unterstützung von Menschen mit Behinderungen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte durch das Treffen angemessener Vorkehrungen.

 

Unter der Leitidee der Inklusion kann es also künftig nicht mehr um Eingliederung (durch z.B. Eingliederungshilfe, Eingliederungsmaßnahmen etc.) in die Gesellschaft gehen, sondern um die Umgestaltung der Umwelt, die die Bürgerrechte aller Bürgerinnen und Bürger respektiert und zu realisieren hilft. Dies impliziert den Einbezug aller Politik- und Gesellschaftsbereiche, um die Voraussetzungen für Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu schaffen. Dazu gehört z.B. auch eine aktive Einbeziehung in Gesetzgebungsverfahren und eine breite Öffentlichkeitsarbeit, die Menschen mit Behinderungen über ihre Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten informiert.

 

Die BAGFW fordert, die von der früheren Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen 2009 begonnene Kampagne zur Information und Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit über die UN-Behindertenrechtskonvention für alle Bereiche der Konvention fortzusetzen. Nur wenn alle Akteurinnen und Akteure der Politik und Zivilgesellschaft einbezogen sind, kann Inklusion als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gelingen.

 

Trotz föderaler Strukturen in vielen Bereichen liegt die Gesamtverantwortung für diesen Prozess nach Ansicht der BAGFW auf Seiten der Bundesregierung als Unterzeichnerin der Konvention.

 

Die BAGFW begrüßt und unterstützt grundsätzlich die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf die Bereiche Barrierefreiheit, Bildung und Beschäftigung, da hier wesentlicher Veränderungs- und Handlungsbedarf im Prozess der Etablierung gesehen wird.

 

Gleichwohl muss nach Auffassung der BAGFW die Barrierefreiheit in einem umfänglicheren Sinne von Mobilität und Zugang zu Informationen verstanden werden und somit über ein bloßes technisches oder bauliches Verständnis hinaus gehen. Hierin muss sich auch ein verändertes Grundverständnis von Behinderung widerspiegeln, das dem dynamischen Behinderungsbegriff der Konventionspräambel folgt.

 

Die BAGFW weist zudem auf die grundsätzliche Problematik der deutschen Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hin: der in der englischen Version verwendete Begriff „Inklusion“ entspricht nicht dem in der deutschen Übersetzung verwendeten Begriff der „Integration“. Hier treffen zwei fachpolitische Überzeugungen aufeinander. Die BAGFW fordert, die deutsche Übersetzung dahingehend anzupassen, dass sie die zentrale Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention nach Öffnung aller gesellschaftlichen Bereiche für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ermöglicht. Es geht nicht nur darum, innerhalb bestehender Strukturen Raum zu schaffen für Menschen mit Behinderungen, sondern Inklusion im Sinne der Konvention bedeutet, dass gesellschaftliche Strukturen von Beginn an so gestaltet und verändert werden, dass sie der Vielfalt menschlichen Lebens – und damit auch der Vielfalt des Lebens von Menschen mit Behinderungen –  gerecht werden.

 

 

2.2   Begriff der Behinderung und Zugang zu Leistungen

 

Nach Ansicht der BAGFW wird der dynamische Behinderungsbegriff der Konventionspräambel perspektivisch zu einer Überprüfung bzw. Neuausrichtung der geltenden Behinderungsbegriffe in der Gesetzgebung führen müssen, insbesondere bezogen auf den geltenden Behinderungsbegriff des § 2 SGB IX.

 

Die aktuell geltende Unterscheidung von körperlicher, geistiger und seelischer Gesundheit entspricht nicht den Kategorien des neuen ganzheitlichen Verständnisses vom Menschen wie es in der ICF (International Classification of Functioning) dargestellt wird. Auch die Einteilung nach der für das Lebensalter typischen Gesundheitsstörung oder die Voraussetzung der Dauer einer Behinderung von sechs Monaten sind nicht ICF-fundiert.

 

Die z.Zt. angewandten ICD-10-basierten medizinisch-diagnostischen Verfahren zur Feststellung einer Behinderung als Zugangsvoraussetzung zur Inanspruchnahme von Gesundheits-, Rehabilitations- und anderen Sozialleistungen im gegliederten Sozialleistungssystem müssen somit folgerichtig hinterfragt und entsprechend weiterentwickelt werden.

 

Darüber hinaus sind die derzeit im Bereich der Eingliederungshilfen nach § 54 ff SGB XII angewandten zweiteiligen Verfahren zur Klärung von Zugangsvoraussetzungen zur Inanspruchnahme von Teilhabeleistungen zu überprüfen: Die Verfahren, die sich i.d.R. aus ICD-10-basierten medizinisch-diagnostischen Verfahren zur Feststellung einer sogenannten wesentlichen Behinderung und ICF-orientierten Verfahren zur Erhebung des leistungsrechtlichen Hilfebedarfes zusammensetzen, sind konsequent zugunsten konventionskompatibler, ICF-ausgerichteter Verfahren weiterzuentwickeln und auf ihre leistungsrechtlichen Auswirkungen bzw. erforderliche Anpassungen zu überprüfen.

 

                                                               

2.3. Rechts- und Handlungsfähigkeit

 

Menschen mit Behinderungen müssen als Rechtssubjekt anerkannt werden und in allen Lebensbereichen ihre vollumfängliche Rechts- und Handlungsfreiheit wahrnehmen können. Hierfür müssen Menschen mit Behinderungen eine entsprechende Unterstützung erhalten, um ihre Rechte ausüben zu können. Gleichzeitig muss Missbrauch ausgeschlossen werden.

 

Trotz des fortschrittlichen Regelungsansatzes zur (betreuten) Handlungsfähigkeit in bestimmten Lebenslagen für Menschen mit Behinderungen im bestehenden deutschen Betreuungsrecht (BtG) ist  zu hinterfragen, inwieweit diese und weitere im BGB verankerte Regelungen den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention entsprechen oder aber sich  Änderungsbedarfe ergeben.

 

Prüfungsrelevant erscheinen hier insbesondere die BGB-Regelungen zur Geschäftsfähigkeit/ Geschäftsunfähigkeit, der Feststellung der Ehefähigkeit sowie der Zwangsbehandlung nach dem Betreuungsrecht und/ oder den Länderunterbringungsgesetzen. Hierbei sind das veränderte Grundverständnis von Behinderung, die sich daraus  ableitende Beschreibung bzw. verankerte Definition des Behinderungsbegriffes im Gesetz und die daraus ableitbaren juristischen Konsequenzen zu berücksichtigen.

 

Daraus ergibt sich nach Ansicht der BAGFW ein Arbeits- und Prüfauftrag: Das Ausloten von Alternativen i. S. von Assistenz- und Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen zur Wahrnehmung und Ausübung ihrer vollen Handlungs- und Rechtsfähigkeit. Hierzu sind Modelle der rechtlichen Unterstützung i. S. d. Art. 12 Abs. 3 UN-Behindertenrechtskonvention zu entwickeln. Die zu klärende Kernfrage wird sich insbesondere damit beschäftigen müssen, inwieweit die Ausübung der rechtlichen Handlungsfähigkeit und das individuelle Schutzbedürfnis des Menschen mit Behinderungen durch Maßnahmen einer rechtlichen Betreuung nach dem BGB oder durch soziale Teilhabehilfen gestützt werden.

 

Daraus leiten sich nach Einschätzung der BAGFW Klärungsbedarfe zum zukünftigen Aufgaben- und Entscheidungsprofil der Betreuungsgerichte (Anordnung von Maßnahmen der rechtlichen Betreuung und Prüfauftrag zur Anordnung sozialer Hilfen als Alternative / Ergänzung) und  zur (leistungsrechtlichen) Anerkennung und Finanzierung der angeordneten Assistenz- und Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen zur Ausübung ihrer Handlungs- und Rechtsfähigkeit ab.

 

 

2.4. Gesundheit

 

Die Strukturen sowie die materiellen, psychosozialen und kommunikativen Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems verlangen von Menschen mit Behinderungen, die Gesundheitsdienstleistungen benötigen, hohe Anpassungsleistungen, z.B. sind viele Arztpraxen nicht barrierefrei zugänglich. Bei der Diagnostik wird in der Regel von einer hohen verbalen Kommunikationsfähigkeit ausgegangen. Wartezeiten in Ambulanzen und Arztpraxen werden kaum hinterfragt. In vielen ländlichen Gegenden brauchen Patientinnen und Patienten eine hohe Mobilität, um überhaupt eine medizinische Behandlung in Anspruch nehmen zu können. Erwartet wird, dass Patientinnen und Patienten „funktionieren“, d.h. Arbeits- und Zeitaufwand des medizinischen Personals möglichst gering halten. Darüber hinaus besitzen entsprechende Berufsgruppen kaum Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Die Regeln für die Verteilung der Honorare benachteiligen diejenigen Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenhäuser, die mehr Patienten mit (zeit-)aufwendigen Bedarfen behandeln. Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten und Ansprüche auf Leistungen sind häufig nicht barrierefrei aufbereitet (z.B. in Leichter Sprache, Übersetzung für Blinde und Sehbehinderte etc.) und nur Menschen ab einem bestimmten Bildungsgrad erschließbar.

 

Der uneingeschränkte Zugang, inklusive der Wahlfreiheit, zu allen Leistungen des Gesundheitswesens ist eine wesentliche Voraussetzung  für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Werden Art. 25 UN-Behindertenrechtskonvention, § 2a SGB V sowie die §§ 26 und 27 SGB IX ernst genommen, muss auch im Gesundheitssystem ein Paradigmenwechsel stattfinden: Das heißt nach Ansicht der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, dass die Strukturen und Bedingungen des Gesundheitssystems in jeder Hinsicht barrierefrei werden müssen.

 

Die BAGFW sieht für die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen einen dringenden Handlungsbedarf. Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention versteht die BAGFW dahingehend, dass für Menschen mit Behinderungen im Bereich der gesundheitlichen Versorgung keine „Sonderwege“ eröffnet werden sollen, sondern stattdessen vorhandene Gesundheitsdienstleistungen an die Bedarfe der entsprechenden Menschen angepasst werden müssen. Diese Form des Paradigmenwechsels wird sich auch für andere Bevölkerungsgruppen, wie z.B. alte und hochbetagte Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund, positiv auswirken und Synergieeffekte erzielen.

 

Hieraus ergeben sich nach Ansicht der BAGFW insbesondere folgende Aufgaben:

 

·         Alle Einrichtungen der Gesundheitshilfe (z.B. Arztpraxen) sowie alle Verfahren der Diagnose und Behandlung sind auf ihre materielle, psychosoziale und kommunikative Barrierefreiheit und Zugänglichkeit sowie behindertengerechte Ausstattung hin zu überprüfen. Entsprechende Kriterien für Zertifizierungsverfahren sind zu entwickeln.

 

·         Alle geltenden Gesetze und alle zukünftigen Gesetzgebungsverfahren in der Gesundheitshilfe müssen in regelmäßigen und standardisierten Verfahren hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen mit Blick auf eine verbindliche, gewährleistende Gesetzgebung hin geprüft werden. Hierbei sind Selbsthilfeorganisationen, Verbände der Behindertenhilfe und Wohlfahrtsverbände zu beteiligen.

 

 

2.5. Bildung

 

Die BAGFW begrüßt die angekündigte Schwerpunktsetzung zur Inklusiven Bildung im Rahmen des Nationalen Aktionsplanes der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Da in Deutschland weniger als 20 % der Kinder mit Behinderungen inklusiv beschult werden, ist hier nach Ansicht der BAGFW ein besonderes Engagement notwendig. Bei der Umsetzung des Rechts auf Inklusive Bildung muss nach Ansicht der BAGFW sichergestellt sein, dass die Gesamtverantwortung der Prozesssteuerung und Umsetzung nach wie vor bei der Bundesregierung angesiedelt ist; sie darf sich dem nicht  mit dem Verweis auf das föderale Staatenprinzip entziehen.

 

Des weiteren möchte die BAGFW darauf aufmerksam machen, dass Inklusive Bildung nicht nur das Kindesalter und somit vorschulische und schulische Bildungssysteme betrifft, sondern sich auch auf inklusive Erwachsenenbildung beziehen muss, die dem Grundsatz des lebenslangen Lernens für alle Menschen mit und ohne Behinderungen verpflichtet ist. Dies gilt nach Ansicht der BAGFW auch und insbesondere für Kinder und Menschen mit hohem bzw. komplexem Unterstützungsbedarf.

 

Die  BAGFW ist der Auffassung, dass Kindern mit Behinderungen grundsätzlich ein Rechtsanspruch auf uneingeschränkten Zugang zum Regelschulsystem zu gewähren ist. Eltern müssen ein Wahlrecht für den Lernort ihrer Kinder erhalten. Gleichzeitig müssen die bestehenden Strukturen des Regelschulsystems reformiert und an die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen angepasst werden.

 

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind der Meinung, dass für die Umsetzung des in Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention formulierten Rechts auf Inklusive Bildung entscheidend sein wird, wie die in Art. 2 UN-Behindertenrechtskonvention vorgenommene Begriffsbestimmung einer „angemessenen Vorkehrung“ in der Praxis interpretiert und ausgelotet wird. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf Schülerinnen und Schüler mit einem komplexen Unterstützungsbedarf zu richten. Es gilt hierbei zu berücksichtigen, dass auch bereits das Versagen angemessener Vorkehrungen als eine Form der Diskriminierung zu bewerten ist. Die Bekämpfung einer Diskriminierung durch angemessene Vorkehrungen im schulischen Bereich erscheint jedoch nur durch eine entsprechende Anpassung des nationalen Schulrechtes möglich. Nach Ansicht der BAGFW müssen die Länder zu einer zügigen Anpassung der Schulsysteme verpflichtet werden. Neben konkreten Schritten und einem konkreten Zeitplan muss in einem Nationalen Aktionsplan insbesondere auch im Zusammenhang mit Artikel 24 der Terminus „Besondere Vorkehrungen“ interpretiert und definiert werden, um ihn in der individuellen Praxis auszuloten. Hier gilt es, trotz föderaler Strukturen die Verantwortung des Bundes im Gesamtprozess zu regeln.

 

 

 

2.6 Arbeit und Beschäftigung

 

Die BAGFW sieht wie die Bundesregierung die Notwendigkeit, das Themenfeld „Beschäftigung“ im Rahmen des Nationalen Aktionsplans schwerpunktmäßig zu bearbeiten. Für die Prozesssteuerung und -gestaltung gelten die unter 1.1 bis 1.3. aufgeführten Anforderungen gleichermaßen. Darüber hinaus ist diesbezüglich anzumerken, dass die in der fachpolitischen Diskussion zur Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabeförderung häufig benannte Zielsetzung der Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt nach Auffassung der BAGFW zu kurz greift, da vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention von der Zielsetzung der gesellschaftlichen Inklusion und somit also auch von der Schaffung eines Inklusiven Arbeitsmarktes ausgegangen werden muss. Das bedeutet, dass auch wirtschaftliche Unternehmen als Teil des zu fördernden „Inklusiven Sozialraums“ zu betrachten sind, deren Inklusionsbereitschaft und -kompetenz es in ähnlicher Weise zu fördern gilt wie diejenige nachbarschaftlicher Gemeinwesen. In diesem Sinne und aufgrund der ohnehin bestehenden gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für den Aufbau einer inklusiven Gesellschaft sind im Hinblick auf die Beteiligung an den jeweiligen Arbeitsgruppen und -gremien insbesondere auch Wirtschaftsunternehmen von Beginn an einzubeziehen.

 

Bei der Entwicklung des Nationalen Aktionsplans wird es aus Sicht der BAGFW weiterhin insbesondere darauf ankommen, die in den letzten Jahren entwickelten vielfältigen Vorschläge, Ideen und Reformansätze zur Verbesserung der Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderungen zu einem tragfähigen Gesamtkonzept zusammenzuführen.

 

Darüber hinaus sieht die BAGFW einen besonderen Handlungsbedarf bei der Weiterentwicklung und Sicherung der beruflichen Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen und sehr hohem oder komplexem Unterstützungsbedarf. Vor dem Hintergrund des Art. 27 UN-Behindertenrechtskonvention, der keine Differenzierung hinsichtlich des Umfangs der Teilhabebeeinträchtigung bzw. des Unterstützungsbedarfs vornimmt ist eine Prüfung der aktuellen rechtlichen Regelungen sowie deren Anpassung an die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention erforderlich.

 

 

3. Anforderungen an die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans / Handlungsaufträge

 

Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe aller gesellschaftlichen Akteure. Sie berührt alle Alters- und Lebensbereiche und stellt damit eine Querschnittaufgabe dar. Daher müssen Ziele und Inhalte der Konvention wie Barrierefreiheit, Selbstbestimmung und Inklusion auf allen Ebenen und  in allen gesetzlichen und leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen verankert werden. Sie dürfen keinen haushaltsrechtlichen Einschränkungen unterliegen.

 

In einem ersten Arbeitsschritt sind die im deutschen Recht bestehenden gesetzlichen/leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen i. S. einer  Ist/ Sachstandsanalyse zu erheben und auf ihre Kompatibilität mit der Behindertenrechtskonvention zu überprüfen (wie beispielsweise Regelungen des BGB, des Betreuungsrechtes, der Heimgesetze der Länder). In einem zweiten Arbeitsschritt sind ggf. notwendige Änderungsbedarfe zu identifizieren, Alternativen zu erarbeiten und mit einer entsprechenden Zeitschiene zu unterlegen.

 

Des Weiteren sind bei geplanten gesetzlichen Neuvorhaben entsprechende Prüfaufträge vorzunehmen, die einen entsprechenden Abgleich zwischen Völkerrecht und nationalem Recht beinhalten müssen. Dies betrifft in erster Linie die sich derzeit abzeichnenden Gesetzesvorhaben zur geplanten:                            .    

-       Reform der Eingliederungshilfen nach SGB XII / SGB IX/ Definition des Behinderungsbegriffes

-       Neuordnung der Zuständigkeiten für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen (SGB XII/VIII)

-       Gesundheitsreform

-       Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffes nach SGB XI.

 

Parallel zur Entwicklung von inklusionsfördernden gesetzlichen bzw. rechtlichen Rahmenbedingungen sind nach Ansicht der BAGFW zwingend Überlegungen zur konkreten Förderung der zivilgesellschaftlichen Inklusionskompetenz erforderlich. Es sind entsprechende Anreize, Sachressourcen und Finanzmittel zur Stärkung des Bürgerschaftlichen Engagements, des Ehrenamts, sozialräumlicher Infrastrukturen (Quartiersmanagement, Soziale Stadt) bereitzustellen.

 

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sehen sich in der Selbstverpflichtung, die dargelegten Anforderungen im Sinne einer prozesshaften Bearbeitung zu reflektieren und mit allen beteiligten Akteuren weiterzuentwickeln.