BAGFW-Positionspapier: Wie können SGB II und III Maßnahmen besser nutzbar gemacht werden?

Wie können SGB II und III Maßnahmen besser nutzbar gemacht werden für Menschen mit Behinderungen/ psychisch kranke Menschen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen – Was müsste sich arbeitsmarktpolitisch im Leistungsrecht SGB II und III ändern, um Menschen mit Behinderungen/ Beeinträchtigungen besser in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren?

Wie können SGB II und III Maßnahmen besser nutzbar gemacht werden für Menschen mit Behinderungen/ psychisch kranke Menschen und Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen – Was müsste sich arbeitsmarktpolitisch im Leistungsrecht SGB II und III ändern, um Menschen mit Behinderungen/ Beeinträchtigungen besser in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren?

 

1. Zugang, Assessment und Beratung weiterentwickeln

Die Kompetenzen der Integrationsfachkräfte in den Jobcentern, Behinderungen/ psychische Erkrankungen und Suchterkrankungen erkennen und adäquate Problemlösungsstrategien erarbeiten zu können, müssen dringend gestärkt werden. Es ist zukünftig zu verhindern, dass psychisch kranke und suchtkranke Menschen nur über einen Schwerbehindertenstatus den Zugang zu passenden Unterstützungs- bzw. Teilhabeangeboten finden. Denn das Instrument des Schwerbehindertenausweises wird vielfach von den Betroffenen abgelehnt und als stigmatisierend empfunden, so dass psychisch kranken und suchtkranken Menschen viele Förderprogramme verschlossen bleiben. Auch der Integrationsfachdienst, ursprünglich für die Unterstützung psychisch erkrankter Menschen gegründet, kann oft gar nicht mehr tätig werden, wenn kein Schwerbehindertenausweis vorliegt. Selbst wenn Betroffene sich entschließen den Ausweis zu beantragen, bekommen sie ihn oft nicht oder nur einen geringen Grad der Behinderung (GdB), weil es schwerer ist, diese Art von Behinderung nachzuweisen.

Zur realistischen Einschätzung der Erwerbsfähigkeit und der beruflichen Perspektiven ist es hilfreich, ein zielgruppenorientiertes und ggf. trägerübergreifendes Bedarfsermittlungsverfahren mit zeitlich flexiblen Assessments und fachlichen Instrumenten[1] auszubauen und externe relevante Akteure, wie z. B. Psychologen oder medizinische Fachkräfte einzubeziehen.

Solche Assessmentverfahren müssen nach dem Konzept der ICF[2] nicht nur die Bedingungen der Person (Wissen, Fähigkeiten, Haltungen und/ oder Einschränkungen sowie Funktionsstörungen), sondern ihre Lebensvorstellungen und Umweltbedingungen als maßgebliche Kriterien mit validen Indikatoren einbeziehen und messen.

An der Schnittstelle zwischen der medizinischen Rehabilitation in einer stationären medizinischen Behandlung von psychisch kranken und suchtkranken Menschen und der beruflichen Rehabilitation durch die Arbeitsförderung bestehen weiterhin Abstimmungsbedarfe bei der Bedarfsermittlung mit Blick auf die Diagnostik bzw. beim Profiling. Die Unterstützungen müssen miteinander koordiniert und möglichst nahtlos im Sinne der §§ 10, 11 und 12 SGB IX erfolgen und Unterstützungsprozesse ggf. trägerübergreifend organisiert werden. Diese Prozesse finden in der Praxis teilweise zwischen der stationären Behandlung und den Jobcentern statt und sollten weiter flächendeckend gefördert und flächendeckend eingerichtet werden. Grundsätzlich gehören Arbeitsdiagnostik, Arbeitstherapie und Belastungserprobung zum Standard einer stationären Behandlung wie auch die Organisation der Übergänge zum Jobcenter.

 

2. Ausrichtung der Arbeitsförderung und Ausgestaltung der Arbeitsmarkt-instrumente im SGB II und III

Die derzeitige einseitige Ausrichtung der Arbeitsmarktförderung auf Arbeitslose mit geringen Vermittlungshemmnissen und die damit zusammenhängende Dominanz an kurzfristigen und marktnahen Instrumenten der Arbeitsförderung und deren einseitige Erfolgsmessung an Eingliederungsquoten muss überwunden werden. Dies nicht nur, um der Gruppe von psychisch kranken und suchtkranken Menschen besser gerecht werden zu können, sondern auch um der sehr großen Gruppe der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit erheblichem Unterstützungsbedarf Rechnung zu tragen.[3]

Gelingt diese Umsteuerung nicht, besteht die Gefahr, dass insbesondere psychisch kranke und suchtkranke Menschen kein passendes Unterstützungsangebot erhalten und Krankheitsverläufe ggf. chronisch werden. Erfolge aus der medizinischen Rehabilitation drohen zu versickern, wenn nicht zugleich Perspektiven auf eine Arbeitsmarktintegration und die damit verbundene soziale Teilhabe geschaffen werden. Als Folge wird diese Personengruppe mangels individueller Unterstützungsangebote im System des SGB II und III zunehmend die Angebote der Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen. Dies wird bereits durch die Entwicklung der Neuzugänge im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben bestätigt[4].

Um dem Unterstützungsbedarf dieses Personenkreises gerecht zu werden, müssen Eingliederungsinstrumente zur Verfügung stehen, die für die Förderung der Beschäftigung arbeitsmarktferner Menschen wirksam genutzt werden können. Die BAGFW fordert im SGB II und SGB III langfristige, individuell passgenaue und flexibel gestaltete, kleinschrittige Hilfen (u. a. mit Arbeitserprobungen, betrieblichen Praktika, modularen Qualifizierungselementen u. a.) für diese Menschen anzubieten und die Maßnahmen mit Fachpersonal auszustatten.

Nach den drastischen Mittelkürzungen der vergangenen Jahre benötigen die Jobcenter für diese Aufgabe mehr finanzielle Ressourcen und die Sicherheit, längerfristige Maßnahmen auch über mehrjährige Budgets absichern zu können.

Arbeitsgelegenheiten nach § 16d SGB II sind sinnvoll, um sehr arbeitsmarktferne Menschen sozial zu stabilisieren und ihre Beschäftigungsfähigkeit schrittweise zu verbessern. Die derzeitige Begrenzung der Förderdauer auf zwei Jahre innerhalb von fünf Jahren ist aufzuheben, da sie zum Ausschluss gerade derjenigen Leistungsberechtigten führt, die längerfristige Unterstützung benötigen, und die Wirkung dieses Instruments auf diese Weise ins Leere läuft. Bei den Arbeitsgelegenheiten muss es zukünftig wieder möglich sein, sozialpädagogische Begleitung oder arbeitsbegleitende Qualifizierung direkt mit dem Instrument zu verknüpfen, ohne diese begleitenden Angebote umständlich zukaufen zu müssen. Die derzeit geltenden Kriterien der Zusätzlichkeit des öffentlichen Interesses und der Wettbewerbsneutralität wirken in ihrer Gesamtheit jedoch kontraproduktiv. Sie sind nicht geeignet, um zentral definiert zu werden. Es sollten die lokalen Akteure des Arbeitsmarktes im örtlichen Beirat Verantwortung für die Ausgestaltung erhalten.

Die BAGFW setzt sich außerdem für einen Sozialen Arbeitsmarkt ein, damit diejenigen Langzeitarbeitslosen, darunter auch erwerbsfähige Menschen mit Behinderung, ein individuelles Unterstützungsangebot erhalten, die weit entfernt davon sind, in den Arbeitsmarkt zurückzufinden und sich in einer Situation aus scheinbar unüberwindlichen Problemlagen, Resignation und Hilflosigkeit befinden. Im Sozialen Arbeitsmarkt werden Angebote sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung bei unterschiedlichen Arbeitgebern erschlossen und so ein Zugang zur Erwerbsarbeit und damit den Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe geschaffen.

 

3. Arbeitsaufnahme unterstützen und Arbeitsprojekte weiterentwickeln  

Um eine Arbeitsaufnahme von psychisch kranken und suchtkranken Menschen sowie Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu unterstützen und zu ermöglichen, sind die Eingliederungszuschüsse breiter nutzbar zu machen. (u. a. Berücksichtigung des „Fall Gröninger“ des UN-Fachausschusses zur BRK). Daher dürfen die Eingliederungszuschüsse nicht starr nach Höhe und Zeit gedeckelt werden. Die Förderung muss der Höhe nach abhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit erbracht werden und auch über zwei Jahre hinaus möglich sein.

Integrationsprojekte nach § 132 SGB IX sind nachhaltig und dauerhaft zu fördern, weil sie Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Es sind Möglichkeiten zu prüfen, diese ggf. auch für Menschen im SGB II/ III-Bezug zugänglich zu machen. Die Möglichkeiten der bevorzugten Auftragsvergabe gem. § 97 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sollten über Werkstätten für Menschen mit Behinderungen hinausgehend auch für Integrationsbetriebe und Sozialunternehmen zur Beschäftigung von benachteiligten Personengruppen (Artikel 20 der Vergaberichtlinie) gelten.

Zuverdienstprojekte sind gemeindenahe und niedrigschwellige Angebote zur sozialen Teilhabe. Die BAGFW fordert den flächendeckenden Ausbau und die tragfähige Finanzierung von Zuverdienstprojekten.

 

Berlin, 17. April 2015


[1] Vgl. Abschlussbericht zum Projekt „Prüfung von aktuellem Stand und Potential der Bedarfsermittlung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben unter Berücksichtigung der ICF (Machbarkeitsstudie)“ , S. 55 ff, 60

[2] International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)” (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO)

[3] Vgl. IAB Forschungsbericht 2/2013 : Menschen mit psychischen Störungen im SGB II

[4] Bei den Aufnahmen in den Werkstätten sind ca. 60%  Quereinsteiger, die zuvor auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig waren, vgl. Consens-Endbericht: Verbesserung der Datenlage zur strukturellen Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, August 2014,  S. 95