Rede des BAGFW-Präsidenten Wolfgang Stadler beim Parlamentarischen Abend am 19.11.2014 in Brüssel

Über 50 Jahre Frieden, die Personenfreizügigkeit, die Gleichstellung der Geschlechter, die Bekämpfung von Diskriminierung und die Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz – all dies zählt zu den mittlerweile als selbstverständlich genommenen Errungenschaften der EU. Dennoch steht Europa weiter vor großen Herausforderungen!

Redebeitrag von Präsident Wolfgang Stadler anlässlich des parlamentarischen Abends der BAGFW am Mittwoch, den 19.11.2014 im Europäischen Parlament in Brüssel

Es gilt das gesprochene Wort.

Über 50 Jahre Frieden, die Personenfreizügigkeit, die Gleichstellung der Geschlechter, die Bekämpfung von Diskriminierung und die Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz – all dies zählt zu den mittlerweile als selbstverständlich genommenen Errungenschaften der EU. Dennoch steht Europa weiter vor großen Herausforderungen!

Sehr geehrte Mitglieder des Europäischen Parlaments, sehr geehrte Vertreter/innen der Europäischen Kommission,
sehr geehrte Damen und Herren des diplomatischen Corps, liebe Kolleginnen und Kollegen,


in diesem Sinne darf ich Sie recht herzlich zu dem heutigen Parlamentarischen Abend der BAGFW in Brüssel begrüßen. Ich begrüße insbesondere die Abgeordneten Peter Simon, Thomas Mann und Gesine Meißner, die sich angeboten haben, auf unsere europapolitischen Erwartungen zu reagieren. Den Mitar- beitern des Büros des Abgeordneten Peter Simon danken wir besonders für die organisatorische Unterstützung, die den heutigen Abend in den Räumen des Parlaments erst ermöglicht. Bedauerlicherweise können die Abgeordneten der Grünen und der Linken wegen externer Klausurtagungen ihrer Fraktionen nicht an der heutigen Veranstaltung teilnehmen.

Sei
t 90 Jahren arbeiten die deutschen Wohlfahrtsverbände institutionell in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zusammen. Seit 25 Jahren ist die BAGFW in Brüssel aktiv mit einer EU-Vertretung, die das europäische Geschehen verfolgt und mitgestaltet.

Die
Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind fester Bestandteil des Sozialstaates
. Als gemeinnützige Erbringer von sozialen Dienstleistungen sind sie unverzichtbarer Teil der Da- seinsvorsorge in Deutschland und tragen zum sozialen Zusammenhalt in Deutschland und Europa bei. Die Arbeit der deutschen Wohlfahrtsverbände besteht aus einem Dreiklang: Sie erbringen soziale Dienstleistungen, sie sind anwaltschaftlich engagiert für benachteiligte und bedürftige Menschen und sie unterstützen das Bürgerschaftliche Engagement. Diese kurze Darstellung zeigt, dass die BAGFW auch auf dem Brüsseler Parkett kein Akteur wie jeder andere ist.

 

Die Wahlen zum Europäischen Parlament nimmt die BAGFW nun zum Anlass, um mit den wieder- und neugewählten Mitgliedern des Europäischen Parlaments ins Gespräch zu kommen und sich über konkrete Erwartungen auszutauschen.

Di
e Wirtschaftskrise führte in der Europäischen Union zu Verwerfungen, die einen Anstieg der Arbeitslosigkeit und eine Zunahme von Armut und sozialer Ausgrenzung zur Folge hatten und noch haben. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der einzelnen Mitgliedstaaten driftet auseinander wie der Kommissionsbericht über Beschäftigung und soziale Entwicklungen 2013 deutlich macht. In etwa der Hälfte der Mitgliedstaaten, vor allem in Südeuropa und dort besonders in den Krisenstaaten Portugal, Griechenland und Spanien, hat sich die Situation im vergangenen Jahr erneut verschlechtert.

Aus
Sicht der Freien Wohlfahrtspflge hat die Stärkung der sozialen Dimension der Europäischen Union oberste Priorität. Die Halbzeitbewer- tung der Europa 2020 Strategie fällt aus Sicht der Wohlfahrts- verbände ernüchternd aus: Die Armut nimmt europaweit zu- und nicht ab, es fehlt an Verbindlichkeit bei der Einhaltung der vereinbarten Zielvorgaben. Auch Deutschland zeigt sich, trotz guter wirtschaftlicher Entwicklung, bezüglich der Bekämpfung der Armut nicht sehr ambitioniert. Die Beschränkung auf den Indikator Langzeitarbeitslosigkeit blendet die Lebenswirklichkeit von Minijobbern, Geringverdienern und Menschen fern ab vom Arbeitsmarkt aus.

Di
e Mitglieder des Europäischen Parlaments sind gefordert. Die sozialpolitischen Zielsetzungen der Europa 2020 Strategie mit dem Prozess des Europäischen Semesters sowie den Instrumenten der Offenen Methode der Koordinierung und des Nationalen Reformprogramms müssen noch besser mit einan- der verzahnt werden und an Verbindlichkeit gewinnen.

Di
e Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel kann einen Beitrag dazu leisten. Durch sie können die sozialen Ziele der Union, wie sie etwa in Art. 3 EUV, Art. 9 AEUV und der Grundrechtecharta formuliert sind, stärkere Geltung erhalten. Wir sind bereit, uns dafür gemeinsam mit dem Parlament ein- zusetzen. Die Binnenmarkt- und Wettbewerbsregelungen dürfen keinen Vorrang vor den sozialen Grundrechten genießen. Möglicherweise muss auch über eine Vertragsänderung nachgedacht werden.

S
olidarität ist gefordert. Die Instrumente, welche dafür auf europäischer Ebene zur Verfügung stehen, sind die Europäischen Investitions- und Strukturfonds. Diese sollen einen Beitrag zur Angleichung der Lebensverhältnisse leisten. Dabei sind nicht nur mehr Mittel nötig. Es geht auch um Kapazitätsaufbau. Wir befinden uns in der grotesken Situation, dass Länder, wie Rumänien oder Bulgarien, nur 40 bis 50 Prozent ihrer Strukturfondsmittel in der vergangenen Förderperiode abgerufen haben. Ihnen fehlen schlicht die Kapazitäten – sei es bei den öffentlichen Verwaltungsbehörden oder den zivilgesellschaftli- chen Akteuren. Hier kann deutlich mehr von den Mitgliedstaaten getan werden. Das Parlament muss eine aktivere Rolle bei der Beobachtung der Umsetzung der Operationellen Program- me in der gerade begonnenen Förderperiode einnehmen. Sie als Abgeordnete kennen die Situation vor Ort und können we- sentlich zu Verbesserungen beitragen.

Ähnl
iches sehen wir nun bei der Jugendbeschäftigungsinitiative der Europäischen Kommission. Die EU-Gelder zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit stehen zwar zur Verfügung. Sie können aber nicht in der Geschwindigkeit abgerufen werden, wie dies ursprünglich angekündigt wurde. Bürokratie muss abgebaut und dafür müssen Kapazitäten in den entsprechenden Ländern aufgebaut werden!

Di
e Chancen, die die Verordnungen der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds für Partnerschaftsvereinbarungen bieten, müssen genutzt werden.

Uns
er Partnerschaftsprogramm „Rückenwind“ ist hier ein gutes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Fondsverwalter und der Zivilgesellschaft.

Es
ist aus Sicht der Verbände bedauerlich, dass der Mehrjährige EU-Haushalt und damit auch die Kohäsionspolitik Kürzungen hinnehmen müssen. Solche Kürzungen der Finanzmittel der EU-Kohäsionspolitik, wie im aktuellen Haushalt für 2014 bis 2020 geschehen, dürfen nicht wieder vorkommen! Die EU muss handlungsfähig sein, wenn es gilt, Ziele in praktisches Handeln umzusetzen. Solidarität darf keine bloße Worthülse bleiben, sondern muss sich auch in konkreten Finanzhilfen und praktikablen Strategien für die weniger entwickelten Regionen Europas wiederspiegeln. Sie, die Mitglieder des Europäischen Par- laments, sind im Laufe der Legislaturperiode gefragt, wenn es um die Vorbereitungen des nächsten mehrjährigen EU- Haushalts geht.

Di
e Erbringung qualitativ hochwertiger (sozialer) Dienstleistungen von allgemeinem Interesse ist ein erklärtes Ziel der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege als Träger sozialer Dienste und Einrichtungen. In den letzten Jahren wurde einiges erreicht, um insbesondere in Deutschland die vorhandene besondere Rolle der Leistungserbringung durch gemeinnützige Träger auch im Europarecht anzuerkennen. Mit dem sogenannten Almunia-Paket zur Anwendung der Beihilfevorschriften, der De- Minimis-Verordnung für soziale Dienste und mit den neuen Richtlinien zur öffentlichen Auftragsvergabe und zu den Dienstleistungskonzessionen wurden Möglichkeiten eröffnet, um den Besonderheiten der sozialen Dienstleistungen gerecht werdenzu können. Dennoch müssen im Rahmen einer erneuten Re- form der EU-Beihilfevorschriften die De-Minimis Schwellenwerte für soziale Dienstleistungen auf 1 Mio. Euro angehoben und weitere Ausnahmeregelungen hinzugefügt werden.

Derzei
t bereitet die Europäische Kommission eine Reform der EU-Mehrwertsteuerrahmenrichtlinie für gemeinnützige Organisationen vor. Eine Besteuerung zum Regelsteuersatz hätte allein in Deutschland bezogen auf das Jahr 2014 für die gesetzliche Kranken-, Pflege-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversi- cherung Mehrkosten zur Folge. Diese Mehrkosten belaufen sich auf 34 Mrd. Euro bzw. eine Steigerung der Beitragssätze um mehr als 3 Prozentpunkte. Eine derart signifikante Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge ist jedoch politisch kaum realisierbar. Die Beitragslast ist bereits hoch und eine weitere Erhöhung würde zu einer zusätzlichen Steigerung der Lohnnebenkosten führen. Wahrscheinlicher ist eine mittelfristige Absenkung des Leistungsniveaus der Sozialversicherung und der Sozialfürsorge. Dies hätte jedoch massive negative Auswirkungen auf den Lebensstandard von benachteiligten und/oder hilfebedürftigen Menschen. Daher spricht sich die BAGFW dezidiert gegen eine Reform der Mehrwertsteuerrichtlinie aus.

Ei
n weiteres Thema, dass in Brüssel eine gewisse „Beliebtheit“ erfährt, ist der Begriff des „Sozialen Unternehmertums“. Damit verbunden sind die Debatten rund um „soziale Wirkungsmessung“ und „soziale Innovationen“. Hierbei ist auffällig, dass die federführende Generaldirektion Markt der Europäischen Kommission stets die Bedeutung von sog. „Social Entrepreneurs“ betont. Um diese Debatte nur kurz anzureißen: oftmals wird so getan, als könnten soziale Unternehmer fern ab der Gemeinnützigkeit bessere und innovativere Dienstleistungen erbringen. Sie seien schneller und flexibler im Vergleich zu den sogenannten „Tankern“ der Freien Wohlfahrtspflege. Es ist hervorzuheben, dass die Freie Wohlfahrtspflege von und durch ständiger Innovation lebt und durchaus viele innovative Projekte fördert und vor Ort hervorbringt. Dabei fühlt sich die Freie Wohlfahrtspflege einer nachhaltigen und flächendeckenden Versorgung verpflichtet, die durch gewinnorientierte „Social Entrepreneurs“ nicht erbracht werden kann, weil ihre Arbeit nur dort stattfindet, wo sie Gewinnen erzielen können.

Neue‘ soziale Unternehmer können ihre Rolle aber so verstehen, dass sie ergänzend und punktuell soziale Bedarfe in neuen sozialen Dienstleistungen abbilden und diese über zusätzliche (auch private) Mittel erproben, bevor diese ggf. in die Regelversorgung aufgenommen werden. Die Freie Wohlfahrts- pflege lehnt von daher einen Ersatz der öffentlichen Förderung für soziale Dienstleistungen durch private Mittel entschieden ab.

Mi
t der Debatte um Soziales Unternehmertum wird auch das Thema der Messung sozialer Wirkungen verbunden. Soziale Wirkungen können nicht bei jeder Dienstleistung mit einer bloßen Zahl (Output) bewertet werden. Es müssen qualitative Ergebnisindikatoren erfasst und beschrieben werden. Deshalb führen auch sogenannte „Social Impact Bonds“ ein hohes Risiko der Fehllenkung mit sich. Diese orientieren sich alleine an Output-Vorgaben. Außerdem: Welche Interessen verfolgen private Investoren, wenn sie in sogenannte „Social Impact Bonds“ investieren? Was geschieht, wenn sich der Staat aus der Verantwortung stiehlt und die Versorgung der Bevölkerung im Bereich der Daseinsvorsorge privaten Investoren überlässt?

Für
Diskussionen sorgen schließlich derzeit die Verhandlungen zum EU-US Freihandelsabkommen TTIP. Wem nützt das Abkommen? Sind wir als soziale Dienste im Hinblick auf die Qualität der Leistungserbringung betroffen? 150.000 eingereichte Beiträge bei der Konsultation der EU-Kommission verdeutlichen das hohe öffentliche Interesse. Für die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind u. a. folgende Aspekte wichtig:

  • die sozialen Dienstleistungen als Dienste im allgemeinen Interesse im Sinne der Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Art. 14 und Protokoll 26) sollten eindeutig vom Anwendungsbereich des Abkom- mens ausgenommen werden;
  • die öffentliche Verantwortung für die Bereitstellung und die  Erbringung von sozialen Dienstleistungen darf nicht durch das Freihandelsabkommen und etwaige regulatorische Maß- nahmen unterlaufen werden;
  • die Möglichkeit, gemeinnützige Dienste öffentlich zu finanzieren und gemeinnütziges Handeln durch einen besonderen steuerrechtlichen Status anzuerkennen, muss auch künftig gesichert sein;
  • etwaige Vereinbarungen zur öffentlichen Auftragsvergabe sollten die besondere Stellung der sozialen Dienste in den Europäischen Richtlinien berücksichtigen, und anerkennen, dass allgemeine Zulassungsverfahren, wie sie etwa auch im deutschen Sozialrecht und dem sozialrechtlichen Dreieck zur Geltung kommen, nicht der Vergabe unterliegen.
  • Ein externes Rechtsinstrument zur Streitbeilegung lehnen wir ausdrücklich ab.

Die BAGFW beteiligt sich intensiv an dem Diskussionsprozess. Unter anderem ist sie aktiv beteiligt an dem zivilgesellschaftlichen Dialog der EU-Kommission sowie an dem TTIP-Beirat von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel.

Noc
h lässt sich nicht abschätzen, inwieweit die sozialen Dienstleistungen von den Marktzugangsverpflichtungen betroffen sein werden. In den Verhandlungen zu den Abkommen, wozu auch das bereits verhandelte CETA-Abkommen gehört, beschränkt sich die Bundesregierung bisher auf die bereits im GATS- Abkommen getroffenen und damit seit 20 Jahren bestehenden Verpflichtungen: Krankenhäuser, Altenhilfe-, Altenpflege- und Rehabilitationseinrichtungen. Fraglich ist jedoch, inwieweit mit der Umsetzung von CETA und TTIP neue und andere Regelungsmechanismen entstehen können. Inwieweit werden durch die Abkommen CETA und TTIP Strukturen geschaffen, die losgelöst von bisher üblichen parlamentarischen Kontrollen und Strukturen weitere Veränderungsprozesse in Gang setzen können, Standards beeinflussen etc. Es muss am Ende kritisch geprüft werden, ob die Abkommen zustimmungswürdig sind. Hier kommt auf Sie als Abgeordnete eine hohe Verantwortung zu.

Bes
sere Kommunikation und mehr Transparenz von Seiten der Europäischen Kommission sind hier sicherlich hilfreiche Instrumente! Dies einzufordern, darum bitten wir Sie als Mitglieder des Europäischen Parlaments.

Si
e sehen, es gibt eine Menge an Themen der Freien Wohlfahrtspflege mit europäischer Dimension. Uns geht es nicht nur um Interessenvertretung, sondern darum einen Beitrag zum Ausbau des sozialen Europas zu leisten, damit die Bürgerinnen und Bürger wieder Vertrauen in die Kapazität Europas haben und damit Europa und seine Institutionen Antworten auf die dringenden sozialen Fragen geben. Diese und weitere Fragenfreue ich mich daher in der anschließenden Diskussion mit Ihnen zu erörtern.

Herzlic
hen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ich gebe nun das Wort an Herrn Abgeordneten Peter Simon, bei dem ich mich erneut ganz herzlich bedanke für die Unterstützung bei der Verwirklichung dieser Veranstaltung im Europäischen Parlament.