Stellungnahme der BAGFW zur öffentlichen Konsultation über die Reform der Mehrwertsteuersätze

"Freie Wohlfahrtspflege" ist die Gesamtheit aller sozialen Hilfen, die auf freigemeinnütziger Grundlage und in organisierter Form in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden.

Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zusammenarbeitenden Spitzenverbände begrüßen das Konsultationsverfahren der Europäischen Kommission über die Zukunft der Mehrwertsteuer sowie über Reformen zu einem einfacheren und effizienteren Mehrwertsteuersystem.

 

"Freie Wohlfahrtspflege" ist die Gesamtheit aller sozialen Hilfen, die auf freigemeinnütziger Grundlage und in organisierter Form in der Bundesrepublik Deutschland geleistet werden. Freie Wohlfahrtspflege unterscheidet sich einerseits von gewerblichen - auf Gewinnerzielung ausgerichteten - Angeboten und andererseits von denen öffentlicher Träger. Das Miteinander öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik Deutschland ist einmalig in der Welt. Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sind aufgrund ihrer Leistungen für das Gemeinwesen ein wichtiger Bestandteil des Sozialstaates. Das soziale Netz würde zerreißen, wenn es ihre Arbeit nicht gäbe: In den Einrichtungen und Diensten der Wohlfahrtsverbände sind rund 1,4 Millionen Menschen hauptamtlich beschäftigt; schätzungsweise 2,5 bis 3 Millionen leisten ehrenamtlich engagierte Hilfen in Initiativen, Hilfswerken und Selbsthilfegruppen. Die Wohlfahrtsverbände sind föderalistisch strukturiert, d. h. die Gliederungen und Mitgliedsorganisationen sind überwiegend rechtlich selbstständig. Sie haben sich in sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind geprägt durch unterschiedliche weltanschauliche oder religiöse Motive und Zielvorstellungen. Gemeinsam ist allen, dass sie unmittelbar an die Hilfsbereitschaft und an die Solidarität der Bevölkerung anknüpfen.

 

Personengruppen, die voll oder teilweise auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen sind, wie z.B. arme, kranke, behinderte, pflegebedürftige, arbeitslose, obdachlose, Asyl suchende oder sozial ausgegrenzte Menschen, haben oft keine oder nur geringe Möglichkeiten, ihren Vorstellungen zur Lösung der sie bedrängenden Nöte und Probleme Gehör zu verschaffen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich für die Belange benachteiligter und hilfebedürftiger Menschen ein und vertreten deren Interessen in der öffentlichen Diskussion.

 

Wir begrüßen daher die Möglichkeit, im Interesse unserer Dienste und Einrichtungen, insbesondere aber auch im Interesse der betroffenen Menschen eine Stellungnahme zur Neuausrichtung der Mehrwertsteuer-Sätze abgeben zu dürfen, da diese als Endverbraucher von Neuerungen direkt oder indirekt betroffen sind.

 

Die geltenden Vorschriften erlauben gewisse Umsatzsteuerermäßigungen und
-befreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten. Diese sollten aus der Sicht der Freien Wohlfahrtsverbände unbedingt beibehalten werden.

 

Zur Beibehaltung von Umsatzsteuerbefreiungen

 

Insbesondere Artikel 132 Richtlinie 2006/112/EG Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (i.F.: MwStSystRL) sieht Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten vor, wie beispielsweise Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungsleistungen, eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen, Leistungen der Kinder- und Jugendbetreuung/-erziehung oder Schul- und Hochschulunterricht. Darüber hinaus werden nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe f und k der MwStSystRL auch die Leistungen von umsatzsteuerbefreiten Personenzusammenschlüssen sowie die Personalgestellung durch religiöse und weltanschauliche Einrichtungen für Tätigkeiten im Bereich der Heilbehandlung, der Sozialfürsorge sowie der Kinder- und Jugendbetreuung/ -erziehung von der Umsatzsteuer befreit.

 

Eine Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung von dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten hätte aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege aller Wahrscheinlichkeit nach für soziale Leistungen aufgrund des hohen Anteils von Personalkosten eine Erhöhung der Preise bis zum reduzierten Umsatzsteuersatz bzw. sogar bis zum Regelsteuersatz von in Deutschland derzeit 19 % zur Folge.

 

Insbesondere die Krankenhaus- und Heilbehandlungsleistungen, Pflegeleistungen oder Leistungen der Sozialfürsorge werden in Deutschland durch die Sozialversicherung und zum Teil auch aus öffentlichen Kassen bezahlt. Die Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiung und eine Besteuerung zum Regelsteuersatz hätte allein in Deutschland bezogen auf das Jahr 2014 für die gesetzliche Kranken-, Pflege-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung Mehrkosten in Höhe von 34 Mrd. Euro bzw. eine Steigerung der Beitragssätze um mehr als 3 Prozentpunkte zur Folge[1]. Eine derart signifikante Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge wird jedoch politisch kaum realisierbar sein, denn die Beitragslast ist bereits hoch, und eine weitere Erhöhung würde zu einer zusätzlichen Steigerung der Lohnnebenkosten führen. Wahrscheinlicher ist, dass mittelfristig das Leistungsniveau der Sozialversicherung und der Sozialfürsorge abgesenkt wird. Dies hätte jedoch massive negative Auswirkungen auf den Lebensstandard von benachteiligten und/oder hilfebedürftigen Menschen.

 

Bei Selbstzahlern ergeben sich in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe und der Personenzahl eines Haushalts bei einer Steuererhöhung um bis zu 19 % - Punkte gravierende Folgen für die Lebenshaltungskosten. Insbesondere Haushalte mit niedrigem Einkommen sowie Haushalte mit Kindern wären von entsprechenden Steuererhöhungen (z.B. im Bereich der Betreuung und Bildung) überproportional betroffen. Dies könnte durch Transferzahlungen des Staates, wenn überhaupt, nur mit einem zusätzlichen bürokratischen Aufwand und auch nur zeitlich verzögert kompensiert werden.

 

Eine Abschaffung der Umsatzsteuerbefreiungen für dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten hätte zwar eine breitere Bemessungsgrundlage für die Erhebung der Umsatzsteuer zur Folge. Ob aber im Gegenzug der Regelsteuersatz abgesenkt wird, ist angesichts der angespannten Haushaltslage vieler europäischer Länder fraglich. Auch ist nicht mit einer die sozialpolitischen Auswirkungen kompensierenden oder abfedernden Absenkung anderer Steuerarten oder mit entsprechenden Transferleistungen zu rechnen. Ferner dürfte die Abschaffung der Mehrwertsteuerbefreiungen künftige Erhöhungen des Mehrwertsteuer-Regelsatzes oder auch eines ermäßigten Steuersatzes kaum verhindern. Jede Erhöhung des Umsatzsteuersatzes hätte jedoch eine überproportionale Belastung der Sozialkassen bzw. von Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen und von Familien mit Kindern zur Folge.

 

Die Steuerbefreiungen nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe f und k der MwStSystRL sind ebenfalls beizubehalten, da hierdurch das Zusammenwirken umsatzsteuerbefreiter Organisationen gefördert wird. Ohne eine solche Steuerbefreiung wären betriebswirtschaftlich sinnvolle Kooperationen und Zusammenschlüsse zwar möglich, praktisch aber nicht durchführbar. Die Umlage der angefallenen Kosten, insbesondere der Personalkosten, würde mit Umsatzsteuer belegt, die auf Ebene des umsatzsteuerbefreiten Leistungsempfängers mangels Vorsteuerabzug als Aufwand verbleiben würde. Darüber hinaus sollte die Umsatzsteuerbefreiung nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe k der MwStSystRL nicht nur auf unmittelbare Personalgestellungen in den genannten Bereichen beschränkt sein, sondern auf alle Tätigkeiten in den umsatzsteuerbefreiten Bereichen ausgeweitet werden, denn hierdurch ließen sich wirtschaftlich sinnvolle Synergieeffekte bei Kooperationen/Zusammenschlüssen (z.B. im Bereich der Verwaltung) noch effizienter nutzen.

 

Abschließend fordern die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ausdrücklich die Beibehaltung der Umsatzsteuerbefreiung nach Artikel 132 Abs. 1 Buchstabe l der MwStSystRL. Nach dieser Vorschrift sind Leistungen, die Einrichtungen ohne Gewinnstreben, welche politische, gewerkschaftliche, religiöse, weltanschauliche,
philanthropische oder staatsbürgerliche Ziele verfolgen, an ihre Mitglieder in deren gemeinsamen Interesse gegen einen satzungsgemäß festgelegten Beitrag erbringen, von der Umsatzsteuer befreit. Diese Vorschrift hat in Deutschland eine weitreichende Bedeutung, denn bürgerschaftliches Engagement findet vielfach in ertragssteuerbegünstigten, gemeinnützigen Vereinen statt, die ihre dem Gemeinwohl dienenden Aufgaben in der Regel über Mitgliedsbeiträge finanzieren. Werden diese Beiträge nun der Umsatzsteuer unterworfen, könnte dies die Motivation der oft ehrenamtlich Tätigen nachhaltig dämpfen. Ferner könnten kleinere Organisationen mit den anfallenden Pflichten im Zuge der Umsatzsteuererhebung, insbesondere mit der damit verbundenen zusätzlichen Bürokratie, schnell überfordert sein.

 

Zur Beibehaltung von ermäßigten Umsatzsteuersätzen

 

Aus Sicht der Freien Wohlfahrtspflege ist die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes insbesondere auf Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und gesundheitliche Bedarfe grundsätzlich sinnvoll. Die reduzierten Mehrwertsteuersätze erleichtern die Deckung von grundlegenden Bedarfen der Bürgerinnen und Bürger, die an oder unterhalb der nationalen Armutsrisikogrenze von 60 % des Medianeinkommens leben.

 

Die jährlichen Steuermindereinnahmen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des ermäßigten Umsatzsteuersatzes liegen bei ca. 23 Mrd. Euro. Der weitaus größte Teil der Steuermindereinnahmen, d.h. knapp 75 %, entfällt auf den reduzierten Umsatzsteuersatz bei Nahrungsmitteln, Milch und Trinkwasser (ca. 17 Mrd. Euro)[2]. Die Beibehaltung des reduzierten Umsatzsteuersatzes bei Nahrungsmitteln, Milch und Trinkwasser ist aus sozialpolitischen Gründen unabdingbar. Zu diesem Ergebnis kommt auch ein vom Bundesministerium der Finanzen in Auftrag gegebenes Gutachten[3]. Hiervon profitieren vor allem Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen sowie Familien mit Kindern bezogen auf ihre Lebenshaltung in besonderem Maße. Bei diesen Bevölkerungsgruppen haben aufgrund der relativ hohen Konsumquote bereits geringe Preissteigerungen einen großen Einfluss auf die Lebenshaltung. Darum sollte für Gegenstände des täglichen Bedarfs weiterhin und grundsätzlich der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gelten.

 

Eine Erhöhung des Umsatzsteuersatzes auf grundlegende Bedarfe würde zu einer Unterdeckung von grundlegenden Bedarfen insbesondere bei Transferleistungsbeziehern und anderen Personengruppen mit geringem Einkommen führen. Haushalte, die an oder unterhalb der Armutsrisikogrenze leben haben sehr große Probleme, ihre täglichen Bedarfe zu decken. Würde in diesen Fällen der Mehrwertsteuersatz erhöht, würde diese Problematik noch weiter verschärft. Zudem ist kaum zu erwarten, dass der Regelsteuersatz bei Abschaffung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für jegliche Sachverhalte insgesamt soweit abgesenkt würde, dass eine Mehrbelastung der Bevölkerung ausgeschlossen ist. Auch Einkommensteuersenkungen könnten dies nicht kompensieren, da Haushalte an oder unterhalb der Armutsrisikogrenze weitgehend von Einkommensteuerzahlungen befreit sind oder aber gar kein Erwerbseinkommen erzielen.

 

Aus sozialpolitischen Gründen ist es des Weiteren zu begrüßen, dass nach der derzeitigen Kategorie 15 des Anhangs III der MwStSystRL die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen durch von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit, soweit sie nicht gemäß den Artikeln 132, 135 und 136 von der Steuer befreit sind, einem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterworfen werden. Diese Regelung hat in Deutschland u. a. Bedeutung für die Besteuerung von Werkstätten für Menschen mit Behinderung und von Integrationsprojekten. Werkstätten für Menschen mit Behinderung dienen in erster Linie der sinnvollen Beschäftigung der betreuten Menschen und sind nach SGB IX Kapitel 5 Teil 1 und § 136 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Einrichtungen zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das Arbeitsleben. Erst die Besteuerung von Werkstätten und Integrationsprojekten zu einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz ermöglicht es, für die im Rahmen der Betreuung hergestellten Produkte und Dienstleistungen auch Abnehmer zu finden und die gemeinnützige Einrichtung sowie die Arbeitsentgelte an die Menschen mit Behinderung zumindest teilweise selbst zu finanzieren.

 

Die Freie Wohlfahrtspflege spricht sich deshalb grundsätzlich für die Beibehaltung der reduzierten Mehrwertsteuersätze insbesondere in den benannten Bereichen aus.

 

Darüber hinaus sollte Kategorie 15 des Anhangs III der MwStSystRL dahingehend präzisiert werden, dass auch Lieferungen und Leistungen, die quasi als „Nebenprodukt“ im Bereich der sozialen Sicherheit anfallen, mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt werden können.

 

Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten der EU (z.B. Sozialversicherung, steuerfinanzierte Sozialleistungen, Höhe der Regelsteuer-sätze) sollte auf Ebene der EU nur ein allgemeiner Rahmen für die Festlegung der reduzierten Mehrwertsteuersätze vorgegeben werden. Die Festsetzung der konkreten Höhe des reduzierten Mehrwertsteuersatzes hat auf der Ebene der National-staaten zu erfolgen.



[1] „Europäische Mehrwertsteuerreform: Sanierung des Staatshaushalts auf Kosten der Beitragszahler? Finanzielle Auswirkungen eines Wegfalls der Steuerbefreiung von bzw. Steuerermäßigung auf Leistungen der deutschen gesetzlichen Sozialversicherung im Rahmen des Reformvorhabens der Europäischen Union zur Mehrwertsteuer“

Stellungnahme der Deutschen Sozialversicherung, AOK-Bundesverband, BKK Dachverband, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Deutsche Rentenversicherung Bund, IKK e.V., Knappschaft, Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, Verband der Ersatzkassen e.V., GKV-Spitzenverband (vorgelegt am  27.Mai 2013)

[2] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachten 2010/2011, S. 214

[3] Ismer R., Kaul A., Reiß W., Rath S.: Analyse und Bewertung der Strukturen von Regel- und ermäßigten Sätzen bei der Umsatzbesteuerung unter sozial-, wirtschafts-, steuer- und haushaltspolitischen Gesichtspunkten, Saarbrücken 2010