Leistungsrechtliche Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im Sozialgesetzbuch VIII

0. Einführung


Die Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind in unterschiedlichen Sozialleistungssystemen geregelt. Bestimmungen für die Eingliederung von Kindern und Jugendlichen mit Lernbehinderung, mit geistiger und körperlicher Behinderung finden sich in §§ 53 ff. SGB XII (Sozialhilfe). § 35a SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) räumt seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen und von einer solchen Behinderung bedrohten Minderjährigen einen Anspruch auf Eingliederungshilfe ein. Aufgrund der geltenden Rechtslage und der unterschiedlichen Zuständigkeiten entstehen in der Praxis Schnittstellenprobleme zwischen den Hilfesystemen. Diese bringen negative Konsequenzen für junge Menschen und ihre Eltern bei der Leistungsgewährung. In der Fachöffentlichkeit besteht inzwischen überwiegend Konsens[1], dass eine Zusammenführung der Leistungen für alle Kinder und Jugendliche unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und die Gesamtzuständigkeit des Systems der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen eine Möglichkeit ist, Zuständigkeitsstreitigkeiten und Leistungsverzögerungen zwischen der Eingliederungshilfe nach SGB XII und der Jugendhilfe nach SGB VIII zu vermeiden und die leistungsrechtliche Unterscheidung zwischen erzieherischem und behinderungsbedingtem Bedarf aufzuheben.

 

Im Koalitionsvertrag vom 27.11.2013 haben die Regierungsparteien vereinbart, dass die Kinder- und Jugendhilfe zu einem inklusiven Hilfesystem weiterentwickelt und die Schnittstellen in den Leistungssystemen so überwunden werden sollen, dass Leistungen für Kinder mit Behinderungen und für ihre Eltern möglichst aus einer Hand erfolgen können. Das Ziel der Zusammenführung der Leistungen für alle Kinder und Jugendlichen mit oder ohne Behinderung und von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen im SGB VIII entspricht zudem dem Inklusionsleitbild der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention.

Seit 1990 wird in den Kinder- und Jugendberichten immer wieder eine Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im SGB VIII gefordert. Zuletzt wurde die Frage der leistungsrechtlichen Zusammenführung von der durch ASKM und JFMK[2] eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ (im Folgenden: „Arbeitsgruppe Inklusion“ genannt) ausführlich untersucht und bewertet. Beteiligte waren Bund, Länder, Deutscher Landkreistag, Deutscher Städtetag, BAG der Landesjugendämter und die Bundesarbeitsgemeinschaften der überörtlichen Sozialhilfeträger.

Die Arbeitsgruppe Inklusion legte am 5. März 2013 einen Bericht vor, der fachliche Argumente für eine Gesamtzuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen im System der Kinder- und Jugendhilfe skizziert, Implikationen für eine Umsetzung beschreibt und offene Fragen festhält.

Zusammenfassend unterstützt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe durch folgende Maßnahmen und Grund-
sätze:

1.    Einführung einer neuen Leistung „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ im SGB VIII und die inklusive
       Weiterentwicklung des gesamten SGB VIII

2.    Verlagerung der Anspruchsberechtigung von Leistungen aus dem SGB VIII auf die Kinder und
       Jugendlichen

3.    Streichung des Merkmals der Wesentlichkeit im Sinne des § 53 Abs. 1 SGB XII als
       Zugangsvoraussetzung für Leistungen in einem neu zu gestaltenden SGB VIII

4.    Gestaltung eines Übergangsmanagements und Beibehaltung des § 41 SGB VIII

5.    Aufnahme der Komplexleistung Frühförderung ins SGB VIII

6.    Beteiligungs- und personenorientierte Hilfe- und Teilhabeplanung im Sinne des § 36 SGB VIII als
       Steuerungsprinzip für die Gestaltung der Hilfen aus einer Hand im SGB VIII

7.    Neugestaltung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung, die nicht zum Nachteil der Eltern von
       Kindern mit Behinderungen gestaltet ist.

8.    Die Kinder- und Jugendhilfeträger bleiben weiterhin Rehabilitationsträger

9.    Ausgestaltung des Leistungskataloges von Teilhabeleistungen im SGB VIII


1. Die BAGFW unterstützt die Einführung einer neuen Leistung „Hilfen zur Erziehung
und Teilhabe“ im SGB VIII und die inklusive Weiterentwicklung des gesamten SGB VIII

 

Ausgangslage

Die „Arbeitsgruppe Inklusion“ der JFMK und ASMK (AG Inklusion) schlägt die Einführung eines neuen Leistungstatbestandes „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ im SGB VIII vor. Damit „soll die Gesamtsituation eines jungen Menschen besser in den Blick genommen werden und passgenaue, integrierte und einzelfallbezogene Hilfen für Kinder oder Jugendliche geleistet werden“[3]. Der Leistungstatbestand „Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe“ umfasst „nicht nur Hilfen, die auf eine weitere Entwicklung im Sinne eines Zuwachses an Kompetenzen zielen, sondern auch die Leistungen, die auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gerichtet sind“[4].

Bewertung

Die BAGFW bewertet die Zusammenführung der Eingliederungshilfe für junge Menschen im SGB VIII und die Einführung eines neuen Leistungstatbestandes positiv, weil damit vor allem die bisherigen Schnittstellenprobleme zwischen dem SGB VIII und SGB XII vermindert und auf die Gesamtsituation von Kindern und Jugendlichen adäquater eingegangen werden kann. Sie empfiehlt jedoch diesen neuen Leistungstatbestand mit „Hilfen zur Erziehung und Teilhabe“ zu bezeichnen. Die Formulierung sollte bewusst die systemisch angelegten Hilfen zur Erziehung aufgreifen und um den Aspekt der Teilhabe erweitern. Gleichwohl muss zukünftig zwischen den teilhabespezifischen Bedarfen der Kinder mit Behinderungen und dem erzieherischen Unterstützungsbedarf der Eltern unterschieden werden.

Teilhabeleistungen im Sinne eines Nachteilausgleiches dienen der Kompensation von gesellschaftlichen Zugangsbarrieren. Sie müssen darauf abzielen, Funktionsstörungen bzw. Benachteiligungen auszugleichen, die sich aufgrund mangelnder barrierefreier Zugänge zur gesellschaftlichen Teilhabe ergeben. Dieses Verständnis von Behinderung beruht auf dem menschenrechtsbasierten Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention, wonach niemand aufgrund seiner Behinderung ausgegrenzt und diskriminiert werden kann.

Die Lebenslagen „Kindheit und Jugend“ werden in den Vordergrund gestellt, wenn Leistungen für alle Kinder und Jugendliche -unabhängig vom Merkmal der Behinderung- im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe verortet werden. Voraussetzung für die gelingende Umsetzung ist, dass die verschiedenen Kompetenzen (SGB XII und SGB VIII) zusammengeführt und weiterentwickelt werden. Dies eröffnet die Möglichkeit für eine ganzheitliche und kindgerechte Herangehensweise und Hilfeleistung.


2. Die BAGFW unterstützt die Verlagerung der Anspruchsberechtigung von
Leistungen der Hilfe zur Erziehung und Teilhabe auch auf die Kinder und Jugendlichen


Ausgangslage

Bisher sind für Leistungen der Eingliederungshilfe sowohl nach dem SGB VIII als auch nach dem SGB XII die Kinder und Jugendlichen Anspruchsinhaber. Bei den Hilfen zur Erziehung sind die Personensorgeberechtigten - in der Regel die Eltern - Anspruchsberechtigte. Mit dieser Regelung soll dem Vorrang der Elternverantwortung bei der Erziehung der Kinder Rechnung getragen werden. Die Arbeitsgruppe Inklusion schlägt vor, dass bei der Zusammenführung beider Hilfearten in einem Leistungstatbestand die Kinder und Jugendlichen Anspruchsinhaber der neuen Leistung werden. Die Leistungsgewährung soll gleichwohl unter Einbeziehung der elterlichen Perspektive erfolgen und ihre Unterstützung soll Teil der einzelnen Hilfearten sein.

Bewertung

Die Empfehlung der AG Inklusion, die Anspruchsinhaberschaft im SGB VIII auch auf die Kinder und Jugendlichen zu verlagern, wird von der BAGFW grundsätzlich begrüßt. Kinder und Jugendliche werden als selbstständige Rechtssubjekte anerkannt, sie werden neben den Personensorgeberechtigten unmittelbare Adressaten der Leistung, wodurch die Kinderrechte gestärkt werden. Gleichwohl muss das Elternrecht gewahrt bzw. der Vorrang der Elternverantwortung nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG)[5] beachtet werden. Die Wahrung des Elternrechts steht nicht im Widerspruch zur Verlagerung der Anspruchsinhaberschaft auf die Kinder und Jugendlichen.

Den Personensorgeberechtigten sollen die bislang gesetzlich geregelten – eher systemisch angelegten - Leistungen zur Unterstützung in ihren Erziehungsaufgaben auch weiterhin nicht nur als Anspruch für ihre Kinder, sondern auch als Leistung für sie als Personensorgeberechtigte zur Verfügung stehen. Es kann überlegt werden, sie im 2. Abschnitt des 2. Kapitels des SGB VIII (Förderung der Erziehung in der Familie) weiterhin als Rechtsansprüche auszugestalten.


3. Die BAGFW schlägt die Streichung des Merkmals der Wesentlichkeit im Sinne
des § 53 Abs. 1 SGB XII als Zugangsvoraussetzung für Leistungen in einem neu zu gestaltenden SGB VIII vor.


Ausgangslage

Nur bei der „wesentlichen Behinderung“ nach § 53 SGB XII besteht ein Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe[6]. Im Falle von nichtwesentlichen Teilhabeeinschränkungen besteht hingegen nur ein Ermessensanspruch. In der Kinder- und Jugendhilfe ist der Begriff „wesentlich“ fremd. Durch die Prüfung der „Wesentlichkeit“ findet eine Einschränkung der Leistungsberechtigten in der Eingliederungshilfe statt. Die „Wesentlichkeit der Behinderung“ wird bereits in der Eingliederungshilfe im Hinblick auf die von der UN Konvention vorgegebene ICF Orientierung in Frage gestellt[7]. Bei der Hereinnahme des § 35 a ins SGB VIII wurde bezüglich der Leistungen für junge Menschen mit seelischer Behinderung auch aufgrund der präventiven Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe bewusst auf die Übernahme des Begriffs „wesentlich“ verzichtet.

Die Arbeitsgruppe Inklusion stellt fest, dass weder aus den Expertisen noch aus den Zahlen und Daten abgeleitet werden kann, inwieweit sich die Zugangsvoraussetzung „wesentlich“ auf die Anzahl der Leistungsberechtigten unter den jungen Menschen mit Behinderungen auswirkt. Die Arbeitsgruppe Inklusion schlägt deshalb vor, eine Evaluation der Wirkungen des Wesentlichkeitsbegriffes für Kinder und Jugendliche mit Behinderung unter Berücksichtigung der Frühförderung durchzuführen. Sollte die Wesentlichkeit eine steuernde Wirkung entfalten, dann ist eine vergleichbare gesetzliche Beschreibung einzuführen[8].

Bewertung

Mit der bisherigen Regelung, dass Leistungen für junge Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung sowie jene, die von dieser Behinderung bedroht sind nur übernommen werden müssen, wenn die Teilhabebeeinträchtigung wesentlich ist, sind auf Tatbestandsebene vielfältige Abgrenzungsprobleme verbunden. Diese beziehen sich vor allem auf die Abgrenzung zwischen einer seelischen und geistigen Behinderung und auf die in der Praxis nicht einfach zu klärende Frage, ob ein Erziehungshilfebedarf oder ein behinderungsspezifischer Bedarf vorliegt. Die notwendige Differenzierung zwischen den verschiedenen Bedarfen birgt die Gefahr in sich, dass künstlich getrennt wird, was ggf. zusammengesehen werden muss und zu nicht immer bedarfsgerechten und ganzheitlichen Hilfeleistungen führen kann.

Bisher wird die „Wesentlichkeit“ der Behinderung allein an den meist medizinisch definierten Beeinträchtigungen und Funktionsstörungen der Person festgemacht. Der neue Behinderungsbegriff verlangt eine individuelle Definition der Behinderung, bei der die Wechselwirkung zwischen den Merkmalen des Individuums und ihrer Umwelt zu berücksichtigen ist.

Eine zukünftige leistungsrechtliche Begriffsdefinition muss deshalb den erweiterten sozialen Behinderungsbegriff im Sinne der UN-BRK aufgreifen und die Wechselwirkungen mit ein-stellungs- und umweltbedingten Barrieren berücksichtigen. Deshalb muss die leistungs-rechtliche Definition von Behinderung als auch die Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung mindestens auf dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten Klassifizierungsinstrument, der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF), basieren.

Im Übrigen lassen auch jetzt schon die vorhandenen Gesetzesformulierungen Leistungen für Kinder und Jugendliche zu, die von einer Behinderung bedroht sind und die Präventivmaßnahmen aus der Frühförderung benötigen. Damit wird jetzt schon sachgerecht der Präventionsgedanke und nicht das Kriterium der Wesentlichkeit angewendet, was dem Wohle der Kinder und Jugendlichen dienlich ist.


4. Die BAGFW schlägt die Gestaltung eines Übergangsmanagements und die
Beibehaltung des § 41 SGB VIII vor


Ausgangslage

Die Arbeitsgruppe Inklusion spricht sich dafür aus, den Übergang in die Sozialhilfe grundsätzlich bei Erreichen des 18. Lebensjahres festzulegen, sofern davon auszugehen ist, dass der junge Mensch prognostisch auf längere Sicht oder dauerhaft eine Leistung der Eingliederungshilfe benötigt. Sie empfiehlt, dass für Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben für Jugendliche generell der Sozialhilfeträger zuständig ist. Fälle, in denen die Voraussetzungen der Hilfen für junge Volljährige erfüllt sind (§ 41 SGB VIII), blieben in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe.

Bewertung

Übergangsregelungen zum Erwachsenenleben und damit zu den Leistungen der Eingliederungshilfe nach SGB XII sind sinnvoll. Es wird begrüßt, dass frühzeitig die Unterstützung für den Übergang von Schule zum Beruf gewährleistet ist. Dabei muss sichergestellt werden, dass auch der Übergang in eine Jugendberufshilfe und Berufsförderung sowie Berufsbildung und diverse Formen der Teilhabe am Arbeitsleben erleichtert wird. Ein fester Übergangstermin mit dem 18. Lebensjahr, darf aber nicht dazu führen, dass Maßnahmen abgebrochen werden müssen.

Die Gewährungspraxis muss für alle Kinder, Jugendliche und junge Volljährigen einheitlich gestaltet sein, damit eine Stigmatisierung von Menschen mit oder ohne Behinderung vermieden wird.

Der Übergang vom Jugendalter hin zum Erwachsenenalter verläuft fließend und ist als Entwicklungsprozess zu verstehen.

Hilfen zur Entwicklung und Teilhabe der Kinder- und Jugendhilfe müssten über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt werden, solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation für die Persönlichkeitsentwicklung und für die Entwicklung einer eigenverantwortlichen Lebensführung notwendig ist. Gründe für die weitere Gewährung der Hilfe können somit auch wie bisher beispielsweise psychische, gesundheitliche oder körperliche Beeinträchtigungen, soziale Benachteiligungen und Abhängigkeiten sein.

Weitergehender als die bisherige Regelung des § 41 SGB VIII müssten die Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe durch den Träger der Kinder- und Jugendhilfe bis zum 21. Lebensjahr als Rechtsanspruch ausgestaltet werden und im Einzelfall bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gewährt werden, falls die Persönlichkeitsentwicklung dies erfordert und ein Übergangsmanagement in Hilfen nach SGB IX nicht übergangslos und zielführend gewährleistet werden kann.


5. Die BAGFW schlägt die Aufnahme der Komplexleistung Frühförderung
ins SGB VIII vor


Ausgangslage

Der Bereich Frühförderung war nicht Gegenstand der Beratungen der Arbeitsgruppe Inklusion. Bis zu 120.000 Kinder nehmen jährlich Leistungen der Frühförderung wahr. Mit den Vorschriften der §§ 30 und 56 SGB IX hat der Gesetzgeber die Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder neu geregelt. Nach § 30 Abs. 1 SGB IX sollen die medizinischen Leistungen zur Früherkennung und Frühbehandlung im Zusammenhang mit heilpädagogischen Leistungen nach § 56 SGB IX als Komplexleistung erbracht werden. Die Komplexleistung beginnt mit einer interdisziplinären Diagnostik. In der Regel auf Veranlassung des behandelnden Kinderarztes finden eine medizinische, eine entwicklungspsychologische und heilpädagogische Untersuchung statt. Bei Bedarf werden auch weitere Fachgruppen (z. B. Logopädie oder Physiotherapie) hinzugezogen. Die Förderung dauert in der Regel ein Jahr. Wenn es notwendig ist, kann jedoch eine Verlängerung beantragt werden. Komplexleistung Frühförderung ist vom Gesetzgeber als Leistung definiert, die für Kinder ab dem Säuglingsalter bis längstens zur Einschulung erbracht werden kann. Die Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Frühförderungsverordnung – FrühV) grenzt die Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung ab und trifft Aussagen zur Übernahme und Teilung der Kosten zwischen den beteiligten Rehabilitationsträgern, zur Vereinbarung und Abrechnung der Entgelte sowie zur Finanzierung. Zudem sieht sie vor, dass Näheres zu den Anforderungen an Interdisziplinäre Frühförderstellen durch Landesrahmenempfehlungen geregelt werden kann.

Bewertung

Die Erfahrungen seit Einsetzung der Frühförderung zeigen, dass sich die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gestaltet und vielfach erhebliche Probleme bestehen unter denen vor allem die betroffenen Kinder leiden. Dies ist nicht zuletzt dem System der Komplexleistung mit zwei, bisweilen drei Leistungsträgern geschuldet. Dieses führt dazu, dass Zuständigkeiten hin und her geschoben werden. Bis heute streiten sich die Träger der Sozialhilfe und die Träger der Krankenversicherung um eine angemessene Kostenteilung. Beide Kostenträgerseiten verhalten sich sehr defensiv, da sie eine Kostenexplosion befürchten. Entsprechend fehlen verbindliche und bundesweite Standards und die Festlegung von Leistungskomponenten. Bereits beim Zugang zur Leistung und unter welchen Voraussetzungen diese vergeben wird, gibt es bei der Leistungsgewährung große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Für die betroffenen Kinder und Eltern zieht dies Nachteile und bürokratische Hürden nach sich. Anstelle einer interdisziplinären und niedrigschwelligen Komplexleistung erleben Betroffene versäulte und ungeklärte Kompetenzen.

Eine Lösung der Situation besteht aus Sicht der BAGFW darin, die Verordnungsermächtigung zur Frühförderungsverordnung nach § 32 SGB IX so auszuweiten, dass die Bundesländer entsprechend verbindliche Landesrahmenvereinbarungen abschließen müssen. Für die inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe wäre es erforderlich, dass die Komplexleistungen der Frühforderung in das SGB VIII implementiert werden.


6. Die BAGFW unterstützt, dass die Beteiligungs- und personenorientierte Hilfe- und
Teilhabeplanung im Sinne des § 36 SGB VIII als Steuerungsprinzip für die Gestaltung der Hilfen aus einer Hand im SGB VIII angewendet werden soll


Ausgangslage

Die Arbeitsgruppe Inklusion geht davon aus, dass in einem neuen SGB VIII den Jugendämtern die Hilfe- bzw. Teilhabeplanung als zentrales inklusives Steuerungselement zugeordnet sein wird. Wegen neuer Bedarfe und Leistungsarten muss diese Planung weiterentwickelt werden. Es werden vier wesentliche Prinzipien genannt: Fachlichkeit, Beratung, Beteiligung sowie die Prozesshaftigkeit der Hilfe. Die Planung muss sich am individuellen Bedarf ausrichten

Bewertung

Das Verfahren zur Feststellung des Anspruchs, der Ermittlung des Bedarfs, der Klärung der Hilfe- und Teilhabeziele, der Vereinbarung der Leistungen und der Gewährung der Leistungen hat nach dem Wunsch- und Wahlrecht unter Beteiligung der Kinder und Jugendlichen sowie der Erziehungsberechtigten und/oder ihrer rechtlichen Vertretung zu erfolgen. Die Anspruchsfeststellung und die Gewährung der Leistungen sind hoheitliche Aufgaben.

 

 

7. Neugestaltung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung, die nicht zum Nachteil
von Eltern der  Kinder mit Behinderungen gestaltet ist

Ausgangslage

Die Arbeitsgruppe Inklusion empfiehlt eine einheitliche Regelung zur Kostenheranziehung für Hilfen zur Erziehung und Teilhabe. Junge Menschen mit und ohne Behinderung und ihre Eltern sollen gleich behandelt werden. Eine Härtefallregelung soll verhindern, dass einzelne Personengruppen mit unzumutbaren Kosten dauerhaft belastet werden. Ein konkreter Vorschlag für eine Kostenregelung wird nicht unterbreitet. Fest steht nur, dass die neue Kostenregelung mit einer Übergangsregelung vertretbar ausgestaltet werden soll.

Momentan folgt die Kostenheranziehung in der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe verschiedenen Ansätzen.

In der Kinder- und Jugendhilfe richtet sich die Kostenbeteiligung von Eltern, Ehe- oder Lebenspartner des jungen Menschen bei voll- und teilstationären Leistungen sowie vorläufige Maßnahmen in erster Linie nach dem Einkommen. Der konkrete Beitrag folgt aus der Kostenbeitragstabelle. Diese differenziert zwischen teilstationären und stationären Leistungen. Ambulante Leistungen sind kostenfrei.

Bei der Kostenheranziehung im Rahmen der Eingliederungshilfe wird zuerst geprüft, ob es sich um eine sogenannte privilegierte Leistung im Sinne des § 92 Absatz 2 SGB VIII handelt. „Privilegierte Leistungen“ sind beispielsweise heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind oder Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung. Bei diesen Leistungen fallen keine Kosten für die Eingliederungsleistung an. Vermögen wird bei der Kostenheranziehung nicht berücksichtigt. Je nach Art der Hilfe werden bei Leistungsberechtigten, ihren Ehe- oder Lebenspartnern bzw. bei minderjährigen Leistungsbeziehern ihren Eltern, Kosten für den Lebensunterhalt (z. B. Verpflegung) angerechnet. Die Kosten betragen bei vollstationärer Unterbringung je nach Bundesland bis zu 400 Euro.

Bei „nicht privilegierten Leistungen“ findet eine Kostenheranziehung aus Einkommen und Vermögen im Rahmen der Zumutbarkeit statt. Bei einer dauerhaften Unterbringung können die Eltern von minderjährigen Kindern über die häusliche Ersparnis im angemessenen Umfang zur Kostentragung herangezogen werden. Hier sieht die Praxis der einzelnen Bundesländer recht unterschiedliche Regelungen vor.

Bei jungen Volljährigen wird bei ambulanten und teilstationären Leistungen eigenes Einkommen und Vermögen nach den Regelungen des SGB XII angerechnet. Bei stationärer Unterbringung geht nur ein kleiner Teil des Unterhaltsanspruchs auf die Einrichtung über.

Bewertung

Eine einheitliche Regelung zur Kostenheranziehung für Leistungen zur Teilhabe und der Hilfe zur Entwicklung ist zwingend erforderlich. Hierbei sollte nicht die Kostenneutralität sondern eine gerechte und angemessene Regelung für die Kostenübernahme im Vordergrund stehen.

Zudem sind nach den Feststellungen des 5. Familienberichtes Familien mit Kindern mit Behinderungen vielfältigen und dauerhaften finanziellen Belastungen ausgesetzt. Ziel muss es daher sein, dass keine Ausweitung der Kosten- und Unterhaltsheranziehung der Eltern von Kindern mit Behinderungen erfolgt.


8. Die BAGFW schlägt vor, dass die Kinder- und Jugendhilfeträger weiterhin
Rehabilitationsträger bleiben


Situation

Die Mitglieder der AG Inklusion empfehlen, dass - nach der Einführung der großen Lösung im SGB VIII - der Träger der öffentlichen Jugendhilfe kein Rehabilitationsträger mehr ist. Es sollen nur einzelne Bestimmungen aus dem SGB IX anwendbar bleiben. Hintergrund ist, dass die Arbeit des Jugendamts erleichtert werden soll. Insbesondere soll nicht differenziert werden müssen, ob es sich um eine behinderungsspezifische Leistung handelt.

Bewertung

Die Einordnung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe als Rehabilitationsträger ist sinnvoll, damit Leistungen der Rehabilitation einheitlich koordiniert werden. Zudem wird durch eine gute Zusammenarbeit der einzelnen Rehabilitationsträger auch der Übergang von der Jugendhilfe in die Eingliederungshilfe erleichtert. Deshalb sollten die Träger der öffentlichen Jugendhilfe Rehabilitationsträger nach § 6 SGB IX bleiben.

 

 

9. Ausgestaltung des Leistungskataloges von Teilhabeleistungen im SGB VIII

Ausgangslage

Die AG Inklusion spricht sich dafür aus, dass der neue Leistungstatbestand einen teiloffenen Leistungskatalog unter Zusammenführung der bisherigen Hilfen nach § 27 SGB VIII und § 54 SGB XII/ SGB IX vorsieht.

Bewertung

Das Prinzip der Bedarfsdeckung und des personenzentrierten Ansatzes erfordert einen Leistungskatalog, der sicherstellt, dass individuell bestehende Teilhabebeeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ausgeglichen werden.

Die Konkretisierung der Leistung muss dem individuellen Bedarf entsprechen. Die notwendige Leistung darf nicht im Rahmen von Entgeltverhandlungen in Frage gestellt werden. Eine beispielhafte Darstellung von Leistungen ist denkbar.



[1] 13. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, November 2009, BT-Dr. 16/12860.

[2] Arbeits- und Sozialministerkonferenz sowie Jugend- und Familienministerkonferenz

[3] S. 19 des Berichts der von der ASMK und JFMK eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05. März 2013

[4] S. 19 des Berichts der von der ASMK und JFMK eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05. März 2013

[5] Art. 6 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz lautet wie folgt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“

[6] Den Personenkreis, der kraft geltenden Rechts als wesentlich behindert gilt, konkretisiert die Eingliederungshilfeverordnung (EGVO) i. d. F. v. 1. 2. 1975 (BGBl. I S. 433), zuletzt geändert durch Artikel 16 des

Gesetzes vom 19. 6. 2001 (BGBl I S. 1046); darüber hinaus kann die wesentliche Behinderung nach § 53 Abs.1 S. 2 SGB XII durch die Gesamtheit der Behinderungen vorliegen; hierzu vgl. die „Orientierungshilfe Behinderungsbegriff“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) Stand: 24.11.2009

[7] Die „Orientierungshilfe Behinderungsbegriff“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) Stand: 24.11.2009

[8] S. 21 des Berichts der von der ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ vom 05. März 2013