Ein soziales Europa für die Menschen

Über 50 Jahre Frieden, die Personenfreizügigkeit, die Gleichstellung der Geschlechter, die Bekämpfung von Diskriminierung und die Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz zählen zu den mittlerweile als selbstverständlich von den Bürgerinnen und Bürgern in Anspruch genommenen Errungenschaften der EU.

Vorwort

 

 

 

Über 50 Jahre Frieden, die Personenfreizügigkeit, die Gleichstellung der Geschlechter, die Bekämpfung von Diskriminierung und die Regelungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz zählen zu den mittlerweile als selbstverständlich von den Bürgerinnen und Bürgern in Anspruch genommenen Errungenschaften der EU.

 

Viele Bürgerinnen und Bürger stehen Europa dennoch skeptisch gegenüber: Der EU- Integrationsprozess stellt aus ihrer Sicht die bisherigen Lebens- und Arbeitsbezüge in Frage, die aufgrund der demographischen Entwicklung, der Ungleichheit der Bildungschancen in einer auf Wissen basierten Gesellschaft und der immer noch hohen Arbeitslosigkeit gefährdet sind.

 

Mit der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt war die Befürchtung verbunden, dass die Erbringung qualitativ guter Dienste in einem öffentlich verantworteten politischen Rahmen in Frage gestellt sei. Die EU-Bürgerinnen und Bürger haben daher hohe Erwartungen an die soziale Dimension der Staatengemeinschaft, die sicherstellt, dass sie auch in einem integrierten Wirtschaftsraum gute Dienstleistungen von öffentlichem Interesse erhalten. Zudem leben nach wie vor zu viele Menschen in der EU in Armut oder sind von Armut bedroht. Hier erwarten die Menschen Lösungen auf nationaler und europäischer Ebene, die sie schützen.

 

Europa will diese Erwartungen erfüllen. So stellt die Kommission in ihrem Zwischenbericht für die Frühjahrstagung 2007 des Europäischen Rates fest, dass Europa sich nicht auf eine Freihandelszone beschränken darf, sondern das unverzichtbare Gleichgewicht von Wirtschaftsfreiheit und sozialen Rechten sicherstellen muss. Die Staats- und Regierungschefs bekräftigten auf dieser Ratssitzung die Notwendigkeit des Ausbaus des Europäischen Sozialmodells und unterstrichen die Bedeutung der sozialen Dimension Europas. In der Berliner Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge wird schließlich festgestellt, dass im Europäischen Modell wirtschaftlicher Erfolg und soziale Verantwortung vereint sind.

 

Mit dem Positionspapier „Ein soziales Europa für die Menschen“ stellen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland ihr Verständnis eines Europäischen Sozialmodells dar. Sie benennen  die  Grundprinzipien,  die  aus  ihrer  Sicht  konstitutiv  für  ein  soziales  Europa  sein müssen. Schließlich werden Forderungen und Erwartungen an eine europäische Sozialpolitik, die alle einbezieht, präzisiert.

 

 

 

Brüssel, im Oktober 2007

 

Grundannahmen

 

 

 

Die  gemeinsame Werteordnung, die  auf  Friedenssicherung, sozialer Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenwürde beruht, bildet den Rahmen für das Europäische Sozialmodell.

 

Sozialer Ausgleich und soziale Integration sind kein Gegensatz zu Binnenmarkt, Beschäftigungs- und Wirtschaftswachstum. Sozialer Ausgleich ist vielmehr unabdingbar für die Wirtschaftsordnung der EU.

 

Die Verträge der EU bieten eine Grundlage zur Gestaltung und Weiterentwicklung  eines sozialen Europas. Verschiedene Instrumente mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten unterstützen diesen Prozess: gemeinsame Rechtsetzung, Politikkoordination im  Rahmen der  Lissabon-Ziele, Struktur- und Programmpolitik.

 

Das  Europäische Sozialmodell hat  eine  partizipatorische, bürgergesellschaftliche und identitätsstiftende Dimension: Wichtige  Bausteine für  seine  Gestaltung und  Weiter- entwicklung sind die Mitwirkung und Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger und die Beteiligung ihrer Organisationen an Entscheidungsprozessen  und der Verbesserung der Governance (gutes Regieren unter Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen).

 

Die Bereitstellung der Dienste von allgemeinem Interesse und ein Zugang für alle zu hochwertigen Sozial– und Gesundheitsdienstleistungen spielen für die Menschen in Europa eine wichtige Rolle. Sie sind untrennbare Bestandteile des Europäischen Sozialmodells.

 

Ergebnis der Debatte zum Europäischen Sozialmodell muss ein Konsens darüber sein, dass jeder Mensch in der EU vor Armut und sozialer Ausgrenzung geschützt und befähigt sein muss, sein Potential auszuschöpfen.

 

Forderungen

 

 

 

Soziale Integration ergänzt Marktintegration

 

Der  Entwicklungsprozess des  Europäischen Sozialmodells muss  dazu  führen, dass  im Rahmen der Binnenmarktintegration die notwendige soziale Konvergenz auf der Grundlage des Prinzips der Subsidiarität beachtet wird. Bei der Formulierung von politischen Zielen muss die soziale Dimension stärker in den Vordergrund treten.

 

Existenzsichernde Sozialleistungen

 

Umbau und Modernisierung der wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Strukturen sollen so gestaltet werden, dass sie die Fähigkeit und Möglichkeit der Menschen, ihren angemessenen Lebensunterhalt aus  eigener Kraft sicher zu  stellen, fördern und  stärken. Durch ein geeignetes Netz der sozialen Sicherung muss gewährleistet werden, dass insbesondere Menschen mit  eingeschränkten Lebensmöglichkeiten durch wirtschaftliche und  soziale Veränderungen nicht in ihrer Existenz gefährdet werden. In allen Mitgliedstaaten der EU soll deshalb das  Recht  auf  bedarfsabhängige Existenz sichernde Sozialleistungen für  alle Bürgerinnen und Bürger sichergestellt werden.

 

Bildungsgerechtigkeit

 

Die für eine wissensbasierte europäische Gesellschaft wichtige „Bildung für alle“ muss umgesetzt werden. Bildungsgerechtigkeit – das heißt: Gleichheit der Bildungschancen sowie Zugangschancen für Benachteiligte – muss durch konkrete Maßnahmen unterstützt werden. Bei der Herstellung gerechter Bildungschancen sollten die Mitgliedstaaten voneinander lernen.

 

Bekämpfung von Diskriminierungen

 

Die Politik der Nichtdiskriminierung muss konsequent umgesetzt werden. Integrative Sozial- und Beschäftigungspolitik

Die  EU  muss  darauf  hinwirken, dass  die  Sozial-  und  Beschäftigungspolitik in  den Mitgliedstaaten den Kriterien guter Arbeit gerecht wird. Hierzu zählen z.B. der Grad der rechtlichen Sicherheit und  Verbindlichkeit von  Arbeitsverträgen, die  Qualität der Arbeitsbedingungen, die Möglichkeit zur Existenzsicherung durch das Arbeitseinkommen, die Förderung von besserer Bildung sowie von Aus-, Fort- und Weiterbildung.

 

Soziale Folgenabschätzung bei Gesetzesvorhaben

 

Durch eine konsequente Folgenabschätzung sind Gesetzesvorhaben auf europäischer Ebene darauf hin zu überprüfen, inwieweit diese der sozialen Dimension gerecht werden und Integration und Kohäsion fördern und sie nicht etwa behindern.

 

Politische Instrumente besser nutzen

 

Die Offene Methode der Koordinierung ist zu einem demokratisch legitimierten Instrument der Politikgestaltung auszubauen.

 

Eine starke Zivilgesellschaft als Korrektiv

 

Der zivile Dialog – das heißt die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger und ihrer Organisationen – muss auf europäischer und auf nationaler Ebene weiterentwickelt werden und über geeignete institutionalisierte Formen verfügen. Entsprechende Instrumente und Strategien, die zum Ziel haben, die Zivilgesellschaft zu stärken und die Bürgerinnen und Bürger befähigen, an der EU-Politik zu partizipieren, sind auszubauen. Die Erklärung 23 des Vertrages von Maastricht zur Zusammenarbeit  mit den Wohlfahrtsverbänden bietet eine geeignete Grundlage für die Zusammenarbeit mit den Organisationen der Zivilgesellschaft.

 

Die Leistungen freiwillig und ehrenamtlich tätiger Personen und Institutionen sind unverzichtbarer Bestandteil der europäischen Gesellschaften und müssen als besonderes Gestaltungselement eines sozialen Europas gewürdigt werden.

 

Sozial- und Gesundheitsdienste als Brücke in die Gesellschaft stärken

 

Jeder Bürgerin und jedem Bürger der EU, insbesondere benachteiligten und ausgegrenzten Menschen, muss unabhängig von ihrem Einkommen Zugang zu hochwertigen Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen gewährt  werden.  Die  Besonderheiten dieser  Dienste  – Personenbezogenheit, Verankerung in lokale und kulturelle Traditionen – müssen in den politischen Maßnahmen der EU angemessene Berücksichtigung finden.

 

Der  Markt  für   Sozial  –   und  Gesundheitsdienstleistungen muss  durch  besondere ordnungspolitische  Regelungen geordnet sein. Diese müssen sicherstellen, dass für die Bürgerinnen und Bürger Wahlfreiheit bei der Inanspruchnahme der Dienste besteht und Trägerpluralität vorhanden ist. Das Prinzip der öffentlichen Verantwortung für diese Dienste muss handlungsleitend im Rahmen eines sozialen Europas sein.

 

In  den Mitgliedstaaten bestehende (sozial)rechtliche Grundlagen für  die Dienstleistungserbringung müssen anerkannt werden. Die jeweiligen Anforderungen der Dienstleistungserbringung und  des  Wettbewerbsrecht sind  im  Rahmen  des Gemeinschaftsrechts in Übereinstimmung zu bringen.

 

Vorrang des Allgemeininteresses

 

Die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren der Sozial- und Gesundheitsdienste im europäischen Binnenmarkt müssen so gestaltet sein, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können. Im Falle eines Konflikts zwischen dem allgemeinen Interesse und dem europäischen Wirtschaftsrecht muss das allgemeine Interesse Vorrang haben.

 

I. Zum aktuellen Diskurs über das Europäische Sozialmodell

 

Das Europäische Sozialmodell: Vielfältige Interpretationen und Begrifflichkeiten

 

Die Diskussion um das Europäische Sozialmodell untermauert die Forderung nach einem sozialen Europa für die Menschen. Der Begriff hat sich mittlerweile in der politischen Diskussion durchgesetzt. Ihm liegt die Forderung der Bürgerinnen und Bürger nach einem sozialen Europa zugrunde,  in  dem  wirtschafts-,  beschäftigungs-  und  sozialpolitische Ziele  gleichrangig  sind. Dabei geht es nicht um Harmonisierung, sondern um eine spezifische Ausprägung von Sozialstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten, die auf gemeinsamen Merkmalen (Werten) aufbaut.

 

Unterschiedliche Systeme – gemeinsames Modell

 

Die Sozial- und Wohlfahrtssysteme in den Mitgliedstaaten haben sich historisch unterschiedlich entwickelt. Allgemein wird auf die verschiedenen europäischen „Modelle“ skandinavischer, angelsächsischer,  kontinental-europäischer  oder  mediterraner  Ausprägung  hingewiesen. Dahinter stehen unterschiedliche Wohlfahrtsregime, die den Akteuren Staat, Wirtschaft und Gesellschaft jeweils spezifische Rollen und Gewichtungen zuweisen.

 

Trotz dieser bestehenden Vielfalt und unterschiedlichen Traditionen in den sozialstaatlichen Strukturen der einzelnen Mitgliedstaaten sind jedoch allgemeine europäische Merkmale erkennbar. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen beruhen auf den in den Verträgen beschriebenen gemeinsamen Werten Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.

 

Eine europäische Sozialpolitik

 

Die europäische Sozialpolitik hat sich erst langsam entwickelt. Ausgehend vom Aufbau der EU als Wirtschaftsgemeinschaft leiteten sich die sozialpolitischen Grundlagen aus der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen als allgemeines Integrationsziel ab. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen  und  Arbeitnehmer  erforderte  gemeinschaftliche  Regelungen  für  deren soziale Sicherung. Der Europäische Sozialfonds wurde eingerichtet, um Programme zu finanzieren,  die  die  Unterschiede  zwischen  den  Mitgliedstaaten  abbauen  und  den Zusammenhalt fördern. Schließlich wurden im Vertrag von Amsterdam auf der Grundlage des Maastrichter Protokolls zur Sozialpolitik (1993), der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer eigenständige soziale Zielsetzungen aufgenommen. Damit ist die soziale Dimension der EU in den Verträgen und den darin festgelegte Zielen und Aufgaben angelegt.

 

Gleichwohl sind die Kompetenzen der EU eingeschränkt. Sie soll die Mitgliedstaaten bei der

Verwirklichung der Gemeinschaftsziele fördern und unterstützen.

 

Weitere Anknüpfungspunkte für ein soziales Europa finden sich in der Charta der Grundrechte, etwa wenn es darum geht, das Recht auf Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit und zu sozialen Diensten oder auf Zugang zu Gesundheitsvorsorge und zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu gewährleisten.

 

Im von den Staats- und Regierungschefs vereinbarten neuen Grundlagen-Vertrag1  konkretisieren sich diese Ziele und Aufgaben durch Elemente wie etwa „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“. Weiter  heißt  es  im zukünftigen Art. 2: „Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich  durch  Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und  die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

 

 

1   Informelles Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Lissabon, 18./19. Oktober 2007

 

Wirtschaftsgemeinschaft und Sozialgemeinschaft

 

Die Politik der Europäischen Gemeinschaft verknüpft wirtschaftliche, soziale und ökologische

Ziele. Sie hat insofern Modellcharakter, als sie die Ziele

-     eines nachhaltigen Wirtschafts- und Beschäftigungswachstums,

-     eines auf Wettbewerb und Innovation ausgerichteten Binnenmarktes und

-     eines starken sozialen Zusammenhalts (soziale Kohäsion)

miteinander zu einer europäischen Strategie zusammenfasst (Lissabon-Strategie). Diese wurde

im März 2000 von den Staats- und Regierungschefs in Lissabon beschlossen.

 

Eine erfolgreiche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik ist Voraussetzung dafür, um eine gute sozialstaatliche Absicherung gewährleisten zu können. Umgekehrt können aber auch die wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Ziele nicht erreicht werden, wenn die soziale Eingliederung nicht gelingt.

 

Für das Europäische Sozialmodell ist daher der gleichwertige Dreiklang von wettbewerbsfähiger

(sozialer) Marktwirtschaft, Binnenmarkt und sozialer Kohäsion entscheidend.

 

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) sieht in den Werten und Prinzipien der EU die Grundlagen für ein Europäisches Sozialmodell. Die Vision eines Europäischen Sozialmodells muss verbreitet und gestützt werden. Die Bestimmungen in den Verträgen und andere Rechts- und Politikgrundlagen bieten dafür eine Vielzahl von Ansatzpunkten.

 

 

 

II. Elemente eines Europäischen Sozialmodells

 

Sozialer Zusammenhalt und Solidarität

 

Der soziale Zusammenhalt ist wesentlicher Bestandteil eines europäischen Sozialmodells. Im Rahmen der Halbzeitüberprüfung der Lissabon-Strategie wurde vom Europäischen Rat festgestellt, dass Wachstum und Beschäftigung im Dienste des sozialen Zusammenhalts stehen müssen.  Hierbei  geht  es  zum  Einen  darum,  Ungleichheiten  und  Benachteiligungen  (von Regionen oder bestimmten Personengruppen) abzubauen und in einen politischen Rahmen zu stellen, der gleiche Lebenschancen ermöglicht. Die Strukturförderung mit ihren verschiedenen sektoralen Instrumenten will einen Beitrag hierzu leisten und die strategischen Ziele der Beschäftigungs- und Sozialpolitik in konkretes Handeln umsetzen. Darüber hinaus geht es um die Verwirklichung ziviler, sozialer und politischer Rechte, die die gesellschaftliche Teilhabe und den Zugang zu Diensten und Unterstützungssystemen sicherstellen.

 

Will die EU ihre Ziele im Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger erreichen, benötigt sie Instrumente, die die wirtschaftliche und soziale Entwicklung und den Zusammenhalt fördern sowie die Solidarität stärken. Die sozialen Sicherungs- und Unterstützungssysteme der Mitgliedstaaten sind Ausdruck ihrer Sozialstaatlichkeit und spiegeln prinzipiell – etwa durch ihre Finanzierung im Rahmen der Solidargemeinschaft oder der Steuern – diesen solidarischen Ausgleich wider.

 

Solidarität und sozialer Zusammenhalt schließen  notwendige  Modernisierungen  und Anpassungen nicht aus. Die Modernisierung der Sozialschutzsysteme ist eng verbunden mit der Lissabon-Strategie. Die im Rahmen des Lissabon-Prozesses formulierten wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitlinien sehen vor, die europäische Wirtschaft auf Wachstum und Beschäftigung auszurichten, die Attraktivität für Investoren und Arbeitskräfte zu steigern sowie Wissen und Innovation zu fördern. Zugleich sollen Maßnahmen ergriffen werden, die mehr Menschen  –  insbesondere  Benachteiligte  –  besser  in  den  Arbeitsmarkt  integrieren,  ihre

 

Anpassungsfähigkeit verbessern sowie ihre Bildung und Qualifikation steigern. Letztlich muss die

Abhängigkeit eines wachsenden Teils der Bevölkerung von Transfersystemen verhindert werden.

 

Umbau und Modernisierung dürfen nicht dazu führen, dass Menschen durch das Netz der sozialen Sicherung fallen und ausgegrenzt werden. Bei einer Fokussierung der Ziele auf eine Integration in den Arbeitsmarkt besteht die Gefahr, dass die Personengruppen aus dem  Eingliederungsprozess ausgegrenzt  werden,  für  die  vorgelagerte  Integrations- bemühungen und weitergehende Unterstützungsleistungen erforderlich sind.

 

Bei der weiteren Modernisierung und Anpassung muss darauf geachtet werden, dass Wachstum, Beschäftigung und soziale Eingliederung elementare Bestandteile einer Kohäsionspolitik bleiben, die alle einbezieht.

 

Zur  Bewältigung  des Modernisierungsprozesses wird Flexicurity als zukunftsfähiges  Konzept gehandelt, das die Schaffung eines flexiblen und wettbewerbsfähigen Arbeitsmarktes auf der einen und eine hohe Absicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der anderen Seite zum Ziel hat. Die Übergänge zwischen verschiedenen Phasen des Arbeitslebens sollen durch den Dreiklang von flexiblen Beschäftigungsverhältnissen, umfassendem Sozialschutz und aktiver Arbeitsmarktpolitik erleichtert werden. Es geht um die Fragen, wie Sozialschutz und Wettbewerbsfähigkeit miteinander vereinbart werden, wie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dabei unterstützt werden können, sich an ein sich ständig wandelndes wirtschaftliches  Umfeld  anzupassen,  und  wie  Unternehmen  ihrer  sozialen  Verantwortung gerecht werden.

 

Die BAGFW mahnt strategische Konzepte zur Absicherung der Existenz der Arbeitnehmerinnen und  Arbeitnehmer an.  Maßnahmen zur  Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse dürfen nur gemeinsam mit einer ausreichenden sozialen Absicherung umgesetzt werden.

 

Geringqualifizierte  benötigen aktive Eingliederungsmaßnahmen.  Diese dürfen sich nicht nur auf die Vermittlung in Beschäftigung beschränken. Vielmehr sind Initiativen notwendig, die die Befähigung von Menschen zum Ziel haben.

 

Armutsbekämpfung und soziale Eingliederung sind wichtige Elemente zur Herstellung eines gesellschaftlichen Ausgleichs. Sie tragen zur Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und zur sozialen Kohäsion bei, indem der Zusammenhalt gestärkt, die Effektivität erhöht, die Wahrnehmung der Eigenverantwortung gefördert und der soziale Frieden gesichert wird.

 

Das Beratergremium für europäische Politik stellt fest2, dass sich die Schere zwischen Armen und Reichen vergrößert hat. Es ist daher zu begrüßen, dass auf dem Frühjahrsgipfel 2007 die Staats- und Regierungschefs folgende Maßnahmen als vorrangig erklärten:

-     Bekämpfung der Kinderarmut,

-     individualisierte Unterstützung zur aktiven gesellschaftlichen Eingliederung,

-     Einbeziehung von Erwerbsunfähigen durch angemessenes Mindesteinkommen

-     Ausgleich von Nachteilen für Migrantinnen und Migranten, insbesondere durch Förderung

der Sprachkompetenzen.

 

Die BAGFW fordert, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Existenzsicherung für Menschen, die nicht arbeitsfähig sind, zu sichern. Teilhabe und Existenzsicherung sind gleichwertiger Bestandteil einer auf Eingliederung ausgerichteten Politik.

 

 

 

 

2Konsultationspapier des Beratergremiums für europäische Politik: Soziale Wirklichkeit in Europa; http://ec.europa.eu/citizens_agenda/social_reality_stocktaking/docs/background_document_de.pdf, s. S. 12

 

Die sozial- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen der EU sind darauf auszurichten, dass sie den Zielsetzungen Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung gerecht werden. Es sind Angebote für ausgegrenzte Personengruppen vorzuhalten, die keinen unmittelbaren Zugang zu Beschäftigung und Bildung haben.

 

Die BAGFW setzt sich dafür ein, dass im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung in allen  Mitgliedstaaten der  EU  das  Recht auf  bedarfsabhängige Existenz sichernde Sozialleistungen für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet wird.

 

Die BAGFW mahnt eine konsequente Folgenabschätzung an, die Gesetzesvorhaben darauf hin überprüft, inwieweit diese der sozialen Dimension gerecht werden und Integration und Kohäsion fördern.

 

Soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung

 

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind kennzeichnend für die Entwicklung der europäischen Gesellschaften. Die damit verbundenen Rechte des Individuums stellen elementare Prinzipien dieser Gesellschaften dar. Handlungsleitend hierfür sind soziale Gerechtigkeit, Sicherstellung von Teilhabe, Chancengleichheit, Wahrnehmung von (Eigen)Verantwortung, Erfüllung von Grundbedürfnissen und nicht zuletzt der Grundsatz der Nichtdiskriminierung.

 

Grundlage und von besonderer Bedeutung für das gemeinschaftliche Handeln ist die Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung hat die Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger im Blick. Er stellt eine fundamentale Wertorientierung der Gemeinschaft dar und gründet auf den Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten.

 

 Die BAGFW fordert, die Politik der Nichtdiskriminierung konsequent umzusetzen.                

 

Die Gleichbehandlung der Bürgerinnen und Bürger in allen Lebensbezügen zielt auf Chancengleichheit sowie soziale und rechtliche Integration. Sie ist wesentliches Element einer europäischen Gesellschaft, die alle einbezieht.

 

Bildung, Wissen und Zugang zu Informationen sind  herausragende  Elemente  für  die Verwirklichung von Chancengleichheit und für ein zukunftsfähiges Europa. Die Weitergabe von Wissen durch hochwertige Bildungssysteme und mehr Investitionen in die Fähigkeiten der Menschen werden als die beste Garantie für den langfristigen Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Union angesehen.

 

Durch  die  Strategie des  lebenslangen Lernens soll  den  Menschen  u.a.  ein  umfassender, gleichberechtigter und ungehinderter Zugang zu Lernangeboten in den verschiedensten Bildungsstrukturen  und  unterschiedlichen  Lebensphasen  ermöglicht  werden.  Lebenslanges Lernen leistet durch seinen umfassenden Ansatz einen wichtigen Beitrag zur sozialen Eingliederung. Bildung fördert die Befähigung der Menschen, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen, eigene Stärken zu entwickeln und eigene Kompetenzen einzubringen.

 

Durch den Europäischen Qualifikationsrahmen werden die Voraussetzungen geschaffen, um die Vergleichbarkeit von beruflichen Qualifikationen und Kompetenzen und die Beurteilung von Bildungsabschlüssen zu erleichtern. Die damit mögliche Verknüpfung der verschiedenen Bildungsabschlüsse in der EU leistet einen Beitrag zum lebenslangen Lernen und zur Mobilität.

 

Die BAGFW erwartet, dass intensive Anstrengungen unternommen werden, um die für eine wissensbasierte europäische Gesellschaft wichtige Bildung für alle umzusetzen. Die

 

Verwirklichung von Bildungsgerechtigkeit und die Verbesserung der Zugangschancen für

Benachteiligte müssen durch konkrete Maßnahmen unterstützt werden.

 

Dabei sind  auch  Aspekte des  nicht  formalen Lernens zu  berücksichtigen, die  einen wichtigen Beitrag zur Kompetenzbildung und Befähigung leisten.

 

 

 

III. Instrumente der Umsetzung

 

Handeln auf europäischer Ebene bedeutet, über Instrumente zu verfügen,

-     die die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung europäischer Ziele unterstützen,

-     die Gemeinschaftsmaßnahmen fördern,

-     durch die die gemeinsamen Politiken koordiniert und

-     die Bürger beteiligt werden können.

 

Europäische Politik wird durch harte (legislative) und weiche Instrumente gestaltet. Mit den

Instrumenten

-     der Rechtsetzung (z.B. im Bereich Chancengleichheit und Diskriminierungsverbot),

-     der politischen Koordination (durch Anwendung der Offenen Methode der Koordinierung in

den Bereichen Beschäftigung, soziale Eingliederung, Alterssicherung, Gesundheit und Pflege, Jugendpolitik sowie Lebenslanges Lernen) und

-     der   Struktur-   und   Programmpolitik   (durch   Nutzung   der   zur   Verfügung   stehenden

finanziellen Instrumente etwa im Rahmen der Strukturfonds oder durch Aktionsprogramme) werden Strategien und Lösungsansätze entwickelt, um den beschriebenen Herausforderungen begegnen zu können.

 

Offene Methode der Koordinierung

 

Mit Hilfe der in der Europäischen Beschäftigungsstrategie entwickelten und für den Sozialschutzbereich übernommenen Offenen Methode der Koordinierung (OMK) soll die Verwirklichung der europäischen Ziele durch Koordination und Austausch von Best Practice erreicht werden.

 

Das Instrument der OMK wird allerdings von den Mitgliedstaaten – oft vor dem Hintergrund komplizierter Abstimmungsprozesse – nur unzureichend genutzt. Häufig mangelt es an Engagement zur Begleitung des OMK-Prozesses. Auch ist die Mitwirkung aller Beteiligten nicht immer gewährleistet. Das hat zur Folge, dass Erfahrungen aus der Arbeit mit besonders betroffenen Personengruppen nicht immer in die weitere Politikumsetzung einfließen können. Perspektivische Ansätze und nachhaltige Strategien sind nicht immer erkennbar.

 

Die BAGFW hält eine Weiterentwicklung der OMK zu einem demokratisch legitimierten Instrument der  gemeinsamen Politikentwicklung für  notwendig. Dazu  bedarf es demokratischer Kontrolle durch die  zuständigen Institutionen sowie Transparenz und Subsidiarität im Hinblick auf die jeweiligen Kompetenzen.

 

Ziviler Dialog und Partizipation

 

Der zivile Dialog ist ein wichtiges Instrument zur Partizipation der Bürgerinnen und Bürger an europäischen Entscheidungen und zur Verdeutlichung europäischer Politiken.

 

Die Einbindung der Zivilgesellschaft in die Politikgestaltung und in die Vorbereitung und Umsetzung der Unionsbeschlüsse entspricht dem Wunsch nach mehr gesellschaftlicher Teilhabe am europäischen Einigungswerk.

 

Die wachsende Anerkennung des zivilen Dialogs findet zunehmend ihre Entsprechung in Vorschlägen der Kommission, etwa zur besseren Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern, zur besseren Rechtsetzung und zum besseren Regieren, aber auch im Rahmen der konkreten Umsetzung europäischer Programme und Strategien mit dem Ziel, die Organisationen der Zivilgesellschaft zu beteiligen.

 

Die BAGFW fordert, den zivilen Dialog auf europäischer und auf nationaler Ebene weiterzuentwickeln. Im Rahmen geeigneter institutionalisierter Formen ist eine frühzeitige Beteiligung und Mitwirkung an der Umsetzung von Politiken und Programmen sicherzustellen.

 

Die sozialen Folgen europäischer Politiken und Programme sind im Hinblick auf Entwicklung, Nachhaltigkeit und Zielerreichung abzuschätzen. Hierzu ist die Partizipation der Zivilgesellschaft unabdingbar.

 

Gemeinwohlorientierte Dienste und Organisationen

 

In allen Mitgliedstaaten stehen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen, gemeinwohlorientierte Sozial- und Gesundheitsdienste zur Verfügung. Ihre Bedeutung und Rolle für das Gemeinwesen sind allgemein anerkannt und in vielen Mitgliedstaaten auch gesetzlich verankert.

 

Sozial- und Gesundheitsdienste sind Dienste von allgemeinem Interesse und werden i.d.R. im Rahmen der öffentlichen Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern erbracht. Die Mitgliedstaaten haben aufgrund ihrer spezifischen Traditionen unterschiedliche Strukturen und Instrumente dafür entwickelt, wie und unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen diese Dienste erbracht werden.

 

In ihrer Mitteilung zu den sozialen Diensten (KOM 2006,177 vom 26.4.2006) hat die Kommission die besonderen Merkmale sozialer Dienste beschrieben: Sie arbeiten nach dem Grundsatz der Solidarität und personenzentriert; sie arbeiten ohne Erwerbszweck und ohne Gewinnerzielungsabsicht und beziehen – als Ausdruck aktiven Bürgersinns – freiwillige bzw. ehrenamtliche Mitarbeit ein; sie sind stark in lokalen Bezügen eingebunden; das Verhältnis zwischen  Anbieter  und  Nutzer  ist  oftmals  nicht  mit  dem  im  Markt  üblichen  Anbieter-

/Verbraucherverhältnis vergleichbar.

 

Aus  Sicht  der  Wohlfahrtsverbände  können  diese  Merkmale  noch  durch  folgende  Kriterien ergänzt werden: Sie tragen zur Verwirklichung sozialpolitischer Ziele bei; sie schaffen soziale Bindungen  und  Vernetzungen;  sie  erkennen  und  entwickeln  innovative  Lösungs-  und Hilfeansätze  und  greifen  neue  gesellschaftliche  Entwicklungen  auf;  sie  arbeiten  auf  der Grundlage spezifischer Wertorientierungen.

 

Darüber hinaus kommt es darauf an, dass die Bürgerinnen und Bürger aus einem pluralen Angebot wählen können. Schließlich erfolgt die Finanzierung überwiegend im Rahmen solidarischer umlage- oder steuerfinanzierter Unterstützungsstrukturen.

 

Der universelle Charakter von Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen ist von daher darauf angelegt, Dienste ohne Diskriminierung bestimmter Personengruppen anzubieten und den Zugang aller zu den Diensten und Einrichtungen sicherzustellen. Sie sind auf Dauer angelegt, womit dem Aspekt der Nachhaltigkeit in besonderer Weise Rechnung getragen wird.

 

In der Gemeinwohlorientierung der Sozial- und Gesundheitsdienste finden die Erwartungen der

Bürgerinnen und Bürger an ein Europäisches Sozialmodell ihre Entsprechung.

 

Allen Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere benachteiligten und ausgegrenzten Menschen, muss unabhängig von ihrem Einkommen Zugang zu Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen gewährt werden.

 

Die BAGFW setzt sich dafür ein, dass die besondere Bedeutung der sozialen Organisationen, die als Erbringer von Diensten im allgemeinen Interesse eine nachhaltige Infrastruktur sicherstellen und als Anwalt und Solidaritätsstifter tätig sind, anerkannt wird.

 

Die BAGFW hält insbesondere ordnungspolitische  Regelungen für erforderlich, um den Markt für Sozial- und Gesundheitsdienste zu ordnen. Diese müssen sicherstellen, dass für die Bürgerinnen und Bürger Wahlfreiheit bei der Inanspruchnahme der Dienste besteht und Trägerpluralität vorhanden ist.

 

Auf europäischer Ebene sind Maßnahmen zur Anerkennung der in den Mitgliedstaaten bestehenden (sozial)rechtlichen Grundlagen für die Erbringung der Leistungen zu ergreifen und deren Kompatibilität mit dem Binnenmarkt herzustellen. Die sozialen Zielsetzungen müssen im Rahmen der Wettbewerbskontrolle berücksichtigt werden.

 

Das Prinzip der öffentlichen Verantwortung für die Sozial- und Gesundheitsdienste – unabhängig von  Markt und  Wettbewerb –  muss handlungsleitend im  Rahmen eines sozialen Europas sein. Hochwertige soziale Dienste müssen im Einklang mit dem europäischen Binnenmarkt so gestaltet werden, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können. Im Falle eines Konfliktes zwischen dem allgemeinen Interesse und dem europäischen Wirtschaftrecht muss das allgemeine Interesse Vorrang haben.