Stellungnahme zum Entwurf einer Ratsempfehlung für ein angemessenes Mindesteinkommen zur Gewährleistung einer aktiven Inklusion, vom 28.09.2022

Die Europäische Union sieht sich Krisen ausgesetzt, die besonders die Menschen treffen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Die Auswirkungen der gegenwärtigen Krisen engen Handlungs- und Ausgabespielräume vieler Menschen deutlich ein: Alle Menschen in der EU sehen sich einer drastischen Erhöhung von Preisen für Alltagsgüter, Energie, Transport und Kommunikation ausgesetzt. Dabei sind innerhalb der EU derzeit rund 96,5 Mio. Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, das sind 21,7 % der Gesamtbevölkerung – innerhalb Deutschlands sind dies 20,7 % der Bevölkerung.[1]

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) fordert:

  • Aufbauend auf der Ratsempfehlung muss eine EU-Rahmenrichtlinie für Mindestsicherung in der EU geschaffen werden.
  • Mindestsicherungsleistungen müssen eine angemessene, armutsfeste Einkommensunterstützung gewährleisten.
  • Es muss ein universeller, diskriminierungsfreier Zugang zu existenzsichernden Leistungen gewährleistet werden.
  • Mindestsicherung muss einen nachhaltigen Zugang zu hochwertiger Arbeit ermöglichen (Aktivierung).
  • Es muss ein Zugang zu hochwertigen, grundlegenden Dienst- und Unterstützungsleistungen geschaffen werden.
  • Überwachungs- und Berichterstattungsmechanismen müssen zeitnah erfolgen, nicht erst 2032.

Ein zentrales Mittel zur Bewältigung der genannten Herausforderungen sind armutsfeste Systeme der Mindestsicherung in jedem EU-Mitgliedstaat. Alle Mitgliedstaaten verfügen zwar über eine jeweilige Mindestsicherung, allerdings sind sie hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit und Angemessenheit uneinheitlich und kaum armutsfest. Dies heißt jedoch nicht, dass sie nicht mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert sind.

Eine EU-Rahmenrichtlinie für Mindestsicherung in der EU

Bereits seit 1992, als die erste Ratsempfehlung der EU für die Einrichtung von nationalen Mindestsicherungssystemen verabschiedet wurde,[2] wird mit jedem Schritt hin zu einer Regelung für eine solche Mindestsicherung deutlich, dass es vor allem eines, nämlich eine rechtsverbindliche Regelung für die Einrichtung von armutsfesten Systemen für eine jeweilige Mindestsicherung braucht. Die bisherigen Instrumente zur Stärkung der Mindestsicherungssysteme sind für die EU-Mitgliedstaaten nicht rechtsverbindlich, weshalb ihre Auswirkungen auf die Verbesserung der Mindesteinkommensregelungen in der EU sehr begrenzt geblieben sind. Nur wenn jeder Mitgliedstaat verpflichtet wird, ein angemessenes, befähigendes und zugängliches Mindestsicherungssystem zu schaffen, kann Armut und soziale Ausgrenzung in der Europäischen Union wirksam bekämpft werden.

Deshalb sollte letztlich aufbauend auf der Ratsempfehlung ein rechtsverbindlicher Rechtsakt in Form einer EU-Rahmenrichtlinie für die Mindestsicherung initiiert werden. Dazu ist in der Ratsempfehlung anzuerkennen, dass es in den Verträgen tatsächlich eine Rechtsgrundlage für eine EU-Richtlinie über ein angemessenes Mindesteinkommen gibt und weder Art. 153 (2) (a) noch Art. 153 Abs. 4 AEUV einer solchen Richtlinie entgegenstehen, solange keine Harmonisierung angestrebt wird und solange die „Grundprinzipien“ der Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten nicht berührt werden.

Die BAGFW begrüßt den vorgelegten Vorschlag der EU-Kommission, da er inhaltlich sehr nahe an die Forderung einer armutsfesten Mindestsicherung heranreicht. Gleichzeitig kritisiert die BAGFW aber diesen Vorschlag, da er erneut keine Rechtsverbindlichkeit mit sich bringt. Eine bloße politische Empfehlung mit einem zudem spät angesetzten Monitoring im Jahr 2032, zögert die Umsetzung von bloßen politischen Empfehlungen hin zu konkreten und verbindlichen Maßnahmen erneut hinaus: Zwar soll die Ratsempfehlung 92/441/EWG aus dem Jahr 1992 durch die aktuelle Ratsempfehlung ersetzt werden. Ein bloßes „Ersetzen“, wenn auch mit inhaltlicher Aktualisierung, ändert jedoch nichts am Charakter des gewählten Instruments.

Entscheidend ist, dass die Inhalte als Ziele für jeden Mitgliedstaat rechtsverbindlich werden und in die Rechtsform einer Richtlinie gem. Art. 292 AEUV in Verbindung mit Art. 153 (Abs. 1 h) AEUV gefasst werden. Es liegen wissenschaftliche Gutachten vor, die im bestehenden Primärrecht der EU Rechtsgrundlagen für die Einführung einer EU-Rahmenrichtlinie erkennen.[3] Bestärkt werden diese Stimmen durch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), der eine EU-Rahmenrichtlinie als konkrete Initiative für die Stärkung der Mindestsicherung empfiehlt.[4]

Nach Auffassung der BAGFW müssen zum Regelungsgegenstand einer EU-Rahmenrichtlinie mindestens ein einklagbares, armutsfestes Leistungsniveau (zumindest das (soziokulturelle) Existenzminimum muss garantiert werden), zugängliche und erschwingliche unterstützende sowie essentielle Dienstleistungen, ein universeller und diskriminierungsfreier Zugang und die Möglichkeit der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Teilhabe und Befähigung von Leistungsempfänger:innen gehören.

Gemessen an den von der EU-Kommission im Empfehlungsvorschlag formulierten Zielen, um den Grundsatz 14 der Europäischen Säule sozialer Rechte zu verwirklichen, äußert sich die BAGFW zu dem Vorschlag der EU-Kommission für eine Empfehlung des Rates für ein angemessenes Mindesteinkommen zur Gewährleistung einer aktiven Inklusion vom 28.09.2022:

Angemessenheit der Mindestsicherungsleistungen

Der Empfehlungsvorschlag soll dazu beitragen, dass die Angemessenheit der Einkommensunterstützung verbessert wird: das Recht des einzelnen auf soziale Unterstützung, das Recht auf eine Wohnung, das Recht auf Zugang zu unterstützenden, sozialen Diensten und insgesamt auf ein menschenwürdiges Leben im Sinne eines soziokulturellen Existenzminimums – dies sind einige Anknüpfungspunkte für eine angemessene Einkommensunterstützung bei Armut und sozialer Ausgrenzung, die in dem Vorschlag unter anderem mit Bezug auf die Europäische Grundrechtecharta und die Europäische Säule sozialer Rechte genannt werden. Darüber hinaus gehend wurden jedoch nur zwei konkrete Maßstäbe zur Bemessung von Armut in den Vorschlag einer Ratsempfehlung aufgenommen. Die relative Armutsschwelle von 60% des Einkommensmedians sowie ein Modell eines Waren- und Dienstleistungskorbs. Außerdem kann ein vergleichbares Niveau gewählt werden, das durch nationale Gesetze oder Praxis etabliert ist.

Die genannten Maßstäbe können von den Mitgliedstaaten alternativ aufgegriffen werden, sollten aus Sicht der BAGFW allerdings kumulativ verwendet werden, um ein zumindest annähernd realistisches Bild für den existenzsichernden Bedarf zu haben. Denn eine Leistungsbemessung kann in einigen Regionen der Mitgliedstaaten dazu führen, dass auch mit einem Einkommen von 60 % des Medians noch der Indikator der materiellen Deprivation erfüllt ist. Damit muss die Mindestsicherungsleistungen begründende Armutsschwelle mittels kombinierter Indikatoren defi­niert werden.

Universeller Zugang zu Mindestsicherung

Neben der Angemessenheit der Leistungen ist ebenso der universelle Zugang zu existenzsichernden Leistungen unabdingbar. Um den Zugang zur Mindestsicherung zu verbessern, wird empfohlen, dass die Anspruchsvoraussetzungen transparent, nicht-diskriminierend und online wie offline gleichwertig zugänglich sein sollten. Mitgliedstaaten sollen einen wirksamen Zugang zur Mindestsicherung insbesondere für junge Erwachsene und unabhängig vom Bestehen eines ständigen Wohnsitzes gewährleisten.

Nach Ansicht der BAGFW setzt die Empfehlung wichtige Impulse, um den Zugang zur Mindestsicherung zu verbessern. Die BAGFW betont jedoch, dass eine Zugangsbeschränkung, z. B. aufgrund des Aufenthaltsstatus oder des Alters, grundsätzlich ausgeschlossen werden muss. Insbesondere für junge Menschen über 18 Jahre darf es keine Altersgrenze für die Anspruchsberechtigung geben, da junge Menschen, die nicht über die erforderliche Qualifikation und Ausbildung verfügen (NEETS), in der Regel besonders armutsgefährdet sind und oft besondere Schwierigkeiten haben, den Kreislauf der Armut zu durchbrechen. Hinzu kommen bedürftige Personengruppen, die dem Arbeitsmarkt nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen, wie Menschen mit Behinderung oder Ältere.

Für bedürftige nicht erwerbstätige Unionsbürger:innen muss eine Zugangsbeschränkung ebenfalls ausgeschlossen werden. Dahin gehendes Ermessen der Mitgliedstaaten lässt die Unionsbürgerrichtlinie jedoch zu.[5] Im Grundsatz 14 der Europäischen Säule sozialer Rechte heißt es, dass „jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt“, ein Recht auf angemessene Grundsicherungsleistungen“ hat. Ausnahmen dürfen das soziokulturelle Existenzminimum nicht einschränken. Denn hier geht es um die Verwirklichung von grundlegenden Menschenrechten, wie sie beispielsweise im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen, in der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Sozialcharta niedergelegt sind. Diese sind als jedem Menschen gegeben anerkannt.

Die BAGFW sieht die Notwendigkeit, Anreize zu setzen, die dazu beitragen, die Inklusion von Menschen, die nicht erwerbstätig sind, in den Arbeitsmarkt zu fördern, betont aber, dass mit diesen Anreizen keine Möglichkeit zur Kürzung existenzsichernder Leistungen verbunden sein darf, mit denen existenzbedrohende Lebenslagen erzeugt werden. Die Ermutigung und soziale Beteiligung der Betroffenen sollte ein wesentlicher Maßstab sein.

Zugang zum Arbeitsmarkt (Aktivierung)

Die Ratsempfehlung soll die Mitgliedstaaten dazu auffordern, Hindernisse für den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt bzw. für den Verbleib auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen, dann aber bei der Aufnahme einer Beschäftigung keine prekären, unter dem Mindestlohn vergütete oder nicht angemeldete Erwerbstätigkeiten an die Betroffenen zu vermitteln. Es muss sich um eine nachweislich hochwertige Beschäftigung handeln, wie es der Entwurf vorschlägt, so dass die Aufnahme einer Arbeit dem Betreffenden eine nachhaltige Perspektive zur Qualifizierung, Weiterbeschäftigung und Bestreiten seines Lebensunterhalts verschafft.

Zudem wird empfohlen, dass Aktivierungsmaßnahmen ausreichende befähigende und ermutigende Anreize bieten, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Unterstützung junger Erwachsener gelegt werden sollte.

Zugang zu unterstützenden und grundlegenden Dienstleistungen

Die Ratsempfehlung soll die Mitgliedstaaten dazu aufrufen, einen wirksamen Zugang zu hochwertigen Unterstützungsdiensten wie Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung sowie Aus- und Weiterbildung zu gewährleisten. Außerdem soll der ununterbrochene effektive Zugang für die Begünstigten zu grundlegenden Dienstleistungen wie Energieversorgung und Transport gewährleistet werden. Im Bedarfsfall soll zudem der Zugang zu Dienstleistungen der sozialen Inklusion wie Beratung und Coaching bestehen.

Die BAGFW unterstützt insbesondere den Ansatz der Begleitung und des Coachings nach Aufnahme einer hochwertigen Beschäftigung nachdrücklich, da dies dazu beitragen kann, den Betroffenen in der gerade aufgenommenen Beschäftigung zu halten und seine Fähig- und Fertigkeiten auszubauen bzw. an die Erfordernisse der neuen Arbeit anzupassen.

Überwachungs- und Berichterstattungsmechanismen

Nach Ziffer 16 Buchstabe e des Empfehlungsvorschlags soll die Umsetzung der Empfehlung von der Kommission evaluiert und eine Bilanz der Maßnahmen gezogen werden, die als Reaktion auf diese Empfehlung ergriffen wurden. Dies soll insbesondere im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Verringerung von Armut und sozialer Ausgrenzung, die Erhöhung des Beschäftigungsniveaus und die Verbesserung der Ausbildungsbeteiligung geschehen. Allerdings sieht der Vorschlag für die Berichtspflicht gegenüber dem Rat ein Zeitfenster bis 2032 vor. Das Armutsbekämpfungsziel des Aktionsplans der Europäischen Säule sozialer Rechte soll bis 2030 umgesetzt werden. Im Jahr 2024 werden außerdem die Wahlen für die neue Legislaturperiode des Europäischen Parlamentes stattfinden. Die BAGFW fordert deshalb eine Evaluierung bereits 2025 anzusetzen – spätestens jedoch fünf Jahre nach der Annahme der Empfehlung – und weist auf die dringende Notwendigkeit einer effektiven Umsetzung der Empfehlung in den Mitgliedsstaaten hin.

Sollte es nach der Evaluierung zu einer Weiterentwicklung, Nachbesserung oder Anpassung der Ratsempfehlung kommen, ist die substantielle Beteiligung von Menschen mit Armutserfahrung oder Erfahrung von Langzeitarbeitslosigkeit – neben weiteren Stakeholdern der Zivilgesellschaft - ein wesentliches Element des weiteren (gesetzgebenden) Verfahrens. So wenn es etwa zum Entwurf einer Richtlinie oder auch zur Konkretisierung der Angemessenheit der Leistungen, von Maßnahmen zur Qualifizierung und zur Bestimmung einer hochwertigen Beschäftigung kommt. Denn um eine Ausgestaltung der Mindestsicherungsregelungen zu haben, die sich auf reale Bedingungen und Situationsbeschreibungen bezieht, ist es der BAGFW wichtig, dass diese Expert:innen aus Erfahrung an der Gestaltung, Umsetzung, Überwachung, Weiterentwicklung und Bewertung von Mindestsicherungsregelungen wirksam beteiligt und gegebenenfalls dazu befähigt werden.

Da häufig Mitgliedstaaten mit mangelndem Sozialschutz genau diejenigen sind, die keinen hinreichenden finanziellen Spielraum für die Erhöhung ihrer Sozialausgaben haben, schlägt die BAGFW folgenden Schritt zur Finanzierung von nationalen armutsfesten Systemen der Mindestsicherung vor: Um die Mitgliedstaaten bei der Implementierung und Weiterentwicklung von Mindestsicherungssystemen zu unterstützen, ist die Anpassung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch die Einführung einer „Goldenen Regel“ sinnvoll. Sie würde es den Mitgliedstaaten erlauben, bestimmte Arten der öffentlichen Investitionen von der Berechnung ihres öffentlichen Defizits abzuziehen (z. B. bei kindlicher Früherziehung, Fortbildung und aktiver Arbeitsmarktpolitik, bei erschwinglichem und angemessenem Wohnraum). Langfristig sollte die EU die Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten bei der Fortentwicklung von sozialen Mindestsicherungssystemen fördern.

 

Berlin/Brüssel 21.11.2022

 

Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V.

Dr. Gerhard Timm

Geschäftsführer

 

 

Kontakt:

Dr. Stephanie Scholz, dr.stephanie.scholz(at)diakonie.de

Marius Isenberg, marius.isenberg(at)awo.org 

 

 


[1] Eurostat (09/2022). Online abrufbar hier.

[2] Empfehlung des Rates (92/441/EWG) vom 24. Juni 1992 über gemeinsame Kriterien für ausreichende Zuwendungen und Leistungen im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung, abrufbar hier.

[3] Vgl. Benz, Benjamin, Gutachten: Ausgestaltung eines europäischen Rechtsrahmens für Mindestsicherung, 2019; vgl. Kingreen, Thorsten, Gutachten: Ein verbindlicher EU-Rechtsrahmen für soziale Grundsicherungssysteme in den Mitgliedstaaten, 2017.

[4] Vgl. Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme: Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen, SOC/584, 2019. Online abrufbar hier.

[5] Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38 v. 29.04.2004 „Unionsbürgerrichtlinie“.