Standortbestimmung der BAGFW zur Ausreise- und Perspektivberatung im Kontext staatlicher Rückkehrpolitik

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege beraten und unterstützen seit Jahrzehn-ten Schutzsuchende und Migrant:innen in Deutschland.

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege beraten und unterstützen seit Jahrzehnten Schutzsuchende und Migrant:innen in Deutschland. Dies geschieht durch spezialisierte Angebote mehrerer tausend Migrationsfachdienste bundesweit, darunter die Ausreise- und Perspektivberatung.[1] Hier erhalten Menschen, die Deutschland verlassen möchten oder müssen, Informationen und Beratung und gegebenenfalls konkrete Unterstützung.

Vor dem Hintergrund der politischen und administrativen Rahmenbedingungen (I.) und den rechtlichen Hintergründen der Ausreisepflicht (II.) halten es die Verbände für angezeigt, Anforderungen an eine Ausreise und Rückkehr in Sicherheit und Würde (III.) sowie die fachlichen Standards für eine unabhängige und qualifizierte Ausreise- und Perspektivberatung (IV.) zu formulieren.[2]

I. Politische und administrative Rahmenbedingungen

Die letzten Jahre waren von umfangreichen Gesetzespaketen mit Änderungen des Asyl-, Sozial- und Aufenthaltsrechts geprägt.[3] Ein Ziel der Maßnahmen war jeweils eine stärkere Durchsetzung der Ausreisepflicht und die Erhöhung der Zahl der Ausreisen. Ergänzt wurden diese gesetzlichen Änderungen durch eine Reihe von administrativen Maßnahmen im Kontext des „Integrierten Rückkehrmanagements“.[4] So wurde die Aufnahme von Schutzsuchenden mit Rückkehr- und Abschiebungsverfahren verbunden. Durch die Verlängerung der Wohnpflicht in der Landesaufnahme wird die Zuweisung in die Kommunen und damit Integration verzögert bzw. verhindert. Seit 2018 wurden Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende zu „Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückkehrzentren (AnkER-Zentren) bzw. zu „funktionsgleichen Einrichtungen“ umgebaut. Heute verfolgen nahezu alle Aufnahmeeinrichtungen dieses Konzept. Die Verpflichtung, dort zu wohnen, wurde deutlich verlängert und beträgt nach der aktuellen Gesetzeslage standardmäßig bis zu 18 Monaten, für Familien mit Kindern bis zu 6 Monaten, teilweise gilt sie zeitlich unbegrenzt bis zur Ausreise. Der Zugang zu Beratungsstellen sowie die Teilnahme an Integrationsangeboten ist durch die oft isolierte Lage der Einrichtungen stark eingeschränkt. In der Phase des Ankommens findet Rückkehrberatung statt und es wird auf finanzielle Anreize einer Rückkehr hingewiesen. Sogar Abschiebungen finden direkt aus der Aufnahmeeinrichtung heraus statt. Beratungsangebote im Bereich von Rückkehr- und Perspektivberatung werden zunehmend verstaatlicht, indem Angebote von Freien Trägern teilweise nicht weiter gefördert werden und stattdessen Angebote in staatlicher Trägerschaft aufgelegt werden.

Die umfangreichen gesetzlichen und administrativen Maßnahmen im Rahmen des „Integrierten Rückkehrmanagements“ haben zwar zu einer Erhöhung des Ausreisedrucks und Verunsicherung geführt, konnten das Ziel einer Reduzierung der Zahl ausreisepflichtiger Personen nicht erreichen.[5] Dennoch verfolgt auch die Bundesregierung der 20. Legislaturperiode eine stärkere Durchsetzung der Ausreisepflicht. Im Koalitionsvertrag vom 24.11.2021 kündigt sie eine „Rückführungsoffensive“ an, um Ausreisen konsequenter umzusetzen, insbesondere die Abschiebung von Straftäter :innen und sogenannten Gefährder:innen.[6]

Die vorherrschende Annahme, dass die Ausreisepflicht konsequenter durchgesetzt werden müsse, wird oftmals mit der statistisch hohen Zahl ausreisepflichtiger Personen in Deutschland begründet. In politischen Diskussionen wird daher teilweise von einem „Vollzugsdefizit“ bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht ausgegangen. Dies lässt sich statistisch nicht belegen. Die Daten im Ausländerzentralregister, mit denen in der politischen und öffentlichen Diskussion häufig argumentiert wird, sind kaum valide.[7] In Bezug auf das Ziel, die Zahl der Ausreisen zu erhöhen, ist beispielsweise unbekannt, wie viele Ausreisen ohne Kenntnis der Behörden stattfinden. Diese Zahl ist vermutlich deutlich höher als die Zahl der behördlich registrierten Ausreisen, da diese Zahlen nur die Abschiebungen und die staatlich geförderten Ausreisen über das Programm REAG/GARP umfassen.[8]. Zudem brauchen Menschen, wenn sie ausreisepflichtig werden, Zeit, um sich neu zu orientieren und die Ausreise zu planen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege halten daher die an die Annahme eines Vollzugsdefizits anknüpfenden Maßnahmen und gesetzlichen Änderungen nicht für zielführend.

II. Die rechtlichen Hintergründe der Ausreisepflicht

In den letzten Jahren fand eine Diskursverschiebung statt. So wird bei der Bezeichnung „Ausreisepflichtige“ im Unterschied zu „Geduldeten“ nicht mehr deutlich, dass Gründe gegen eine Abschiebung und ggf. auch Ausreise vorliegen können. Ausreisepflichtig sind alle Personen, die nicht oder nicht mehr über einen Aufenthaltstitel verfügen (siehe § 50 AufenthG). Aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen oder aufgrund von Ermessensentscheidungen der Ausländerbehörden kann die Abschiebung, also die Durchsetzung der Ausreisepflicht mit Zwangsmitteln, jedoch ausgesetzt werden. Dies bescheinigt die Duldung (gem. § 60a ff. AufenthG).[9] Die Ausreisepflicht bleibt hiervon allerdings unberührt. Duldungsgründe, die einer Abschiebung entgegenstehen, sprechen häufig ebenso gegen eine selbstständige Ausreise wie z. B. eine laufende Ausbildung. Bei einer Ermessensduldung haben die Ausländerbehörden vorliegende Gründe, die gegen eine Abschiebung sprechen, explizit anerkannt und gewähren den weiteren Aufenthalt. Unter den geduldeten Personen befinden sich auch Menschen, die einen Schutzbedarf haben. Selbst wenn ihre Abschiebung im Rahmen politischen Ermessens durch einen Abschiebestopp ausgesetzt wird, bleiben sie ausreisepflichtig. Teilweise liegen auch mehrere Duldungsgründe vor.[10] Wenn die Abschiebung seitens der Innenbehörden ausgesetzt wird, kann es sich nicht um ein Vollzugsdefizit behördlicher Entscheidungen handeln.

Die Duldung stellt somit in vielen Fällen eine rechtliche Grauzone für Personen dar, deren Aufenthalt nicht legalisiert wird, indem sie ein Aufenthaltsrecht erhalten, deren Aufenthaltsbeendigung gleichwohl aufgrund gesetzlicher Regelungen auch seitens der Ausländerbehörden nicht weiterverfolgt wird. Der Widerspruch zwischen Ausreisepflicht und Duldungsgründen lässt sich oftmals nur schwer auflösen. Die gesetzlichen Regelungen tragen zu dieser Unklarheit bei.

Der Status der Duldung und damit die Ausreisepflicht kann zudem nicht nur durch Ausreise, sondern auch durch die Gewährung eines Aufenthaltstitels beendet werden. Bei der legitimen Forderung nach der Durchsetzung geltenden Rechts zur Aufenthaltsbeendigung sind auch die gesetzlichen Regelungen für ein mögliches Aufenthaltsrecht zu beachten.[11] Diesem trägt das in 2023 in Kraft getretene Chancenaufenthaltsrecht in § 104c Aufenthaltsgesetz teilweise Rechnung.

III. Anforderungen an eine Ausreise in Sicherheit und Würde

Eine Ausreise oder Rückkehr sollte nur in Sicherheit und Würde erfolgen. Eine humane und menschenrechtskonforme Rückkehrpolitik setzt deswegen voraus, dass bei zur Ausreise verpflichteten Menschen sorgfältig geprüft wird, ob eine Rückkehr zumutbar ist. Eine nachhaltige Rückkehrentscheidung und Integration gelingen zumeist am besten, wenn die Betroffenen die freie Entscheidung hatten, ob sie zurückkehren möchten oder nicht. Die Ausreise als Alternative zur Abschiebung wird auch als „freiwillige Rückkehr“ bezeichnet, da sie nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt wird. Aus Sicht der Verbände sollte jedoch eher von einer „selbstständigen Ausreise“ bzw. „unterstützten Ausreise“ – wenn sie mit Unterstützung von Rückkehrberatungsstellen erfolgt, gesprochen werden. Andernfalls kann das Missverständnis entstehen, dass sich die Freiwilligkeit auch darauf bezieht, ob jemand zurückkehren will. Dies ist bei Menschen, denen die Abschiebung droht, zumeist nicht der Fall.[12] Ist eine Ausreise in Sicherheit und Würde aus humanitären, rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich, sollte eine gesicherte und menschenwürdige Perspektive im Bundesgebiet ermöglicht werden.

Für die Durchsetzung der Ausreisepflicht sind vorrangig die Kommunen, unterstützt durch die Länder, zuständig. Bund und Länder fördern unter bestimmten Voraussetzungen die “freiwillige” bzw. selbstständige Ausreise mit verschiedenen Maßnahmen, etwa durch Informationsangebote des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Unterstützungsangebote von der International Organisation for Migration (IOM), sowie durch das REAG/GARP-Programm[13] und andere Rückkehr- und Starthilfen.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich aus Sicht der BAGFW die folgenden konkreten Anforderungen an Rückkehrpolitik und -management:

  1. Im Zielland sollte eine längerfristige Lebensperspektive bestehen, welche den Betroffenen persönliche, rechtliche und materielle Sicherheit ermöglicht. Maßnahmen, die ihre Integration im Zielland unterstützen sollen, sollten nicht nur den Rückkehrenden, sondern auch der lokalen Bevölkerung zugutekommen. Ansprechpersonen und Kontaktstellen, etwa der GIZ, zur weiteren Unterstützung sollten zur Verfügung stehen.
  2. Die selbstständige Ausreise muss immer Vorrang vor einer Abschiebung haben, da eine Abschiebung meist mit physischer Gewalt verbunden ist und zu starker Verunsicherung, Verzweiflung und Angst führt. Abschiebungen müssen menschenrechtlichen Standards genügen. Daher ist aus Sicht der Verbände eine unabhängige Abschiebungsbeobachtung entsprechend der Rückführungsrichtlinie der Europäischen Union (2008/115/EG) notwendig.[14]
  3. Das staatliche Rückkehrmanagement sollte von der Flüchtlingsaufnahme getrennt werden. Die Erstaufnahme in Landesunterkünften sollte zur Durchführung des Asylverfahrens ausgestaltet sein. Asylsuchende sollten sich auf ihr Asylverfahren konzentrieren können und sich nicht mit der Möglichkeit der Rückkehr auseinandersetzen müssen. Die zunehmende Zentralisierung der Verantwortung bei übergeordneten staatlichen Stellen darf nicht dazu führen, dass die Situation des Einzelnen aus dem Blick gerät.
  4. Schutzbedürftige sollten immer ein Aufenthaltsrecht bekommen. Das gilt auch für Personen, die einer Gruppe angehören, für die ein Abschiebestopp erlassen wurde. Die oberste Bundesbehörde sollte einen Abschiebestopp für einzelne Länder erlassen können.[15]
  5. Eine behördenunabhängige Asylverfahrensberatung ist flächendeckend und bedarfsgerecht sicherzustellen. Diese fördert die Qualität der Asylentscheidungen.[16] Durch sie kann bei einem individuellen Rückkehrwunsch während des Asylverfahrens an eine Ausreise- und Perspektivberatung verwiesen werden. Die Beratungsstrukturen arbeiten eng zusammen. Im Mittelpunkt steht der Wunsch der Ratsuchenden und das Aufzeigen realistischer Perspektiven.
  6. Ausreise- und Perspektivberatung der freien Träger kann zu jedem Zeitpunkt über die Möglichkeit der Rückkehr und der damit einhergehenden finanziellen Unterstützung informieren. Von staatlicher Seite sollten diese Informationen allerdings frühestens nach einer ablehnenden Entscheidung im Asylverfahren erfolgen, damit die Information nicht als Signal verstanden wird, dass eine Schutzgewährung unwahrscheinlich ist. Finanzielle Anreize, die Schutzsuchende dazu verleiten, auf ein Schutzgesuch zu verzichten, es zurückzunehmen oder auf Rechtsmittel zu verzichten, sind nicht nur aus rechtsstaatlicher Perspektive ein fragwürdiges Signal.
  7. Allen Personen mit Fragen zu Ausreise, Rückkehr und Weiterwanderung sollte eine behördenunabhängige qualifizierte Ausreise- und Perspektivberatung angeboten werden (siehe dazu Punkt III). Die Zielgruppe der Beratungs- und Unterstützungsangebote sollte nicht auf ausreisepflichtige Menschen verengt werden. Auch Zugewanderte mit einem Aufenthaltstitel, geflüchtete Menschen, die in einen anderen Dublin-Staat ausreisen müssen und/oder Spätaussiedlerinnen und -aussiedler, sollten diese in Anspruch nehmen können.
  8. Bei der Beratung zur und Unterstützung der Ausreise sollen die Bedarfe der ratsuchenden Personen im Mittelpunkt stehen. Sie umfasst Informationen zu allen rechtlich und tatsächlich bestehenden Möglichkeiten und deren Grenzen. Dabei finden Bedarfe und besondere humanitäre Anliegen von schutzbedürftigen Personen besondere Berücksichtigung. Ziel der Beratung ist die Einschätzung der eigenen aufenthalts- und sozialrechtlichen Situation sowie Perspektiven sowohl in Deutschland als auch im Herkunftsland oder einem Drittland. Nur auf einer entsprechend gut informierten Grundlage kann eine selbstbestimmte und nachhaltige Entscheidung getroffen werden.
  9. Es sollte ausreichend Zeit für eine Entscheidungsfindung und Vorbereitung der Ausreise zur Verfügung stehen. Im Falle einer Entscheidung für eine Rückkehr sollte diese sorgfältig geplant und vorbereitet werden können. Hierbei sind die Betroffenen zu unterstützen. Den Rückkehrenden sollten Qualifizierungsmöglichkeiten und reintegrationsfördernde Maßnahmen angeboten werden, die sich an ihren Bedarfen, Ressourcen und Potenzialen orientieren und damit zu einer erfolgreichen Integration im Zielland und Nachhaltigkeit der Ausreiseentscheidung beitragen. Die individuelle Ausreisefrist gem. § 59 AufenthG muss entsprechend bemessen werden.
  10. Zur Vorbereitung der Ausreise gehören auch die Übersetzung und ggf. Beglaubigung von in Deutschland erworbenen Zertifikaten und Dokumenten. Hierzu zählen z. B. Nachweise über den Neuerwerb oder die Vertiefung sprachlicher, schulischer oder beruflicher Qualifikationen in Deutschland, aber auch medizinische Dokumente wie ärztliche Diagnosen. Die Rückkehrenden sollten beim Erwerb dieser Dokumente und der Inanspruchnahme entsprechender Dienstleistungen beratend und finanziell unterstützt werden.
  11. Damit die Ausreise in Sicherheit und Würde erfolgen kann, sind auch organisatorische und logistische Schwierigkeiten zu vermeiden. Zur Deckung der Kosten für die Vorbereitung (etwa Dokumentenbeschaffung) und Durchführung der Ausreise (etwa der Reisekosten und des Transports von persönlichen Gegenständen) müssen ausreichende Fördermittel zur Verfügung stehen. Nach Möglichkeit sollten weitere (finanzielle) Hilfen im Zielland für den Neuaufbau einer Existenz bzw. die berufliche Wiedereingliederung, aber auch zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung vor Ort, gewährt werden.
  12. Abschiebungshaft darf nur als letztes Mittel Anwendung finden.[17] Minderjährige dürfen nie in Haft genommen werden. Im Abschiebehaftverfahren muss das Recht auf einen Pflichtverteidiger eingeführt werden, damit immer ein Rechtsbeistand zur Verfügung steht.[18] Das Trennungsgebot zwischen Abschiebehaft und Justizvollzug ist einzuhalten.
  13. Ein Monitoringmechanismus zur Überprüfung staatlicher Rückkehr- und Reintegrationsprogramme sollte eingerichtet werden und auch die Frage umfassen, ob eine sichere und nachhaltige Integration im Zielland tatsächlich erfolgt.

 

IV. Fachliche Standards der Ausreise- und Perspektivberatung

Im Zuge der (unter I. beschriebenen) Entwicklungen ist die Ausreise- und Perspektivberatung der Wohlfahrtsverbände zunehmend unter Druck geraten.

Einerseits wird sie von staatlichen Stellen als Teil des „Integrierten Rückkehrmanagements“ zur Durchsetzung der Ausreisepflicht angesehen. Dies widerspricht jedoch dem Anspruch der Verbände, den Menschen mit seinen Bedarfen im Mittelpunkt all ihrer Angebote zu sehen. Zielgruppe der Maßnahmen des „Integrierten Rückkehrmanagements“ sind vor allem Personen, die ausreisepflichtig sind oder keine gute Bleibeperspektive haben, während die Ausreise- und Perspektivberatung unabhängig vom Aufenthaltsstatus in Anspruch genommen werden kann. Da die Zielgruppen von Ausreise- und Perspektivberatung und dem „Integrierten Rückkehrmanagement“ nicht deckungsgleich sind, sind auch die Ziele und Maßnahmen unterschiedlich.

Andererseits ist eine Tendenz zur Verstaatlichung der Beratungsangebote erkennbar. Statt die Angebote Freier Träger zu fördern, wird die Beratung für ausreisepflichtige Personen zunehmend direkt bei Behörden angesiedelt. Für nachhaltige Rückkehrentscheidungen müssen Ratsuchende aber, unterstützt durch eine als unabhängig wahrgenommene Beratungsstelle, Möglichkeiten und Grenzen ihrer Gesamtsituation einschätzen, um eine gute und informierte Entscheidung fällen zu können.

Im Folgenden werden fachliche Standards formuliert, die an eine qualifizierte und nachhaltig arbeitende Ausreise- und Perspektivberatung zu stellen sind:

  1. Eine Ausreise- und Perspektivberatung wird nur dann als unabhängig angesehen und ist damit aus Sicht des Ratsuchenden vertrauenswürdig, wenn im Zentrum der Beratung die Anliegen der Ratsuchenden stehen und es Ziel der Beratung ist, der ratsuchenden Person eine gut informierte, individuelle und selbstbestimmte Entscheidung über Rückkehr, Weiterwanderung oder Verbleib im Bundesgebiet zu ermöglichen. Das ist bei überlagernden Interessen wie der Durchsetzung der Ausreisepflicht bei staatlichen Akteuren so nicht möglich. Die Ausreise- und Perspektivberatung sollte daher durch Freie Träger umgesetzt werden.
  2. Für die Glaubhaftigkeit der Beratung und ein vertrauensvolles Beratungsverhältnis ist zentral, dass die Inanspruchnahme einer Ausreise- und Perspektivberatung freiwillig ist. Sie darf nicht mit aufenthalts- oder sozialrechtlichem Zwang verbunden sein. Das Ausstellen von Beratungsbescheinigungen und eine fallbezogene Berichtspflicht gegenüber Ausländerbehörden sind vor diesem Hintergrund abzulehnen.
  3. Die Beratung ist ein Prozess - ausgehend von den Bedarfen der Ratsuchenden - und ist somit ergebnisoffen.
  4. Eine erfolgreiche Beratung setzt ein Vertrauensverhältnis voraus. Die Ausreise- und Perspektivberatung muss daher vertraulich sein. Das Beratungsgeheimnis wird gewahrt. Die Bestimmungen des Datenschutzes werden eingehalten.
  5. Bedarfe und Rechte von vulnerablen Personen, zum Beispiel von Alleinerziehenden, Frauen, Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen müssen in der Ausreise- und Perspektivberatung besondere Berücksichtigung finden. Bei Minderjährigen muss das Kindeswohl vorrangig beachtet werden.
  6. Eine qualifizierte Beratung umfasst im Wesentlichen:
  • die Klärung von Fragen zu aufenthaltsrechtlichen Perspektiven, zur Zumutbarkeit und Möglichkeit der Ausreise bzw. Rückkehr. Gegebenenfalls erfolgt eine Verweisberatung zum Beispiel an die Flüchtlingsberatung oder im Falle eines möglichen Schutzbedarfes an die Asylverfahrensberatung. Des Weiteren ist die sozialrechtliche Situation (z.B. Mitnahme von Rentenansprüchen) zu prüfen.
  • die Klärung von Fragen zur Situation im Ziel- bzw. Herkunftsland, etwa hinsichtlich der dortigen menschenrechtlichen Situation, der Sicherung des Lebensunterhalts, der Wohnsituation, der gesundheitlichen Versorgung, der Schul- und (Aus-)Bildungssituation etc., sowie die Vermittlung diesbezüglicher Hilfen; ggf. Unterstützung zur Gewährung einer verlängerten Ausreisefrist;
  • die Vermittlung von für Rückkehrende wichtigen Qualifizierungs- und Unterstützungsleistungen und –angeboten;
  • die Unterstützung bei der Organisation der Ausreise;
  • die Vermittlung von Unterstützung im Herkunftsland durch Anlaufstellen vor Ort; soweit möglich, wird ein Nachkontaktangebot ermöglicht.

Eine qualifizierte Beratung durch Freie Träger kann nur gewährleistet werden, wenn sie angemessen und verlässlich gefördert wird. Bei staatlicher Förderung kann die Finanzierung der Beratungstätigkeit allein an Indikatoren gemessen werden, die dem Ziel der Beratung, ausgehend von den jeweils individuellen Perspektiven eine gut informierte Entscheidung zu treffen, entsprechen. Dem widerspricht beispielsweise eine Bindung an Rückkehrzahlen. Die Beratung soll jedem offenstehen, der Fragen zur Ausreise hat.

 


[1] Das Angebot hat unterschiedliche Namen: Ausreise- und Perspektivberatung, Rückkehrberatung oder Rückkehr- und Perspektivberatung.

[2] Die Verbände aktualisieren damit ihr Positionspapier vom 04.09.2006 zu Bedingungen von freiwilliger Rückkehr von Flüchtlingen.

[3] Vgl. bspw. „Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (2015), „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ (sog. Asylpaket I, 2015), „Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ (sog. Asylpaket II, 2016), „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ (2017), „Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (Geordnete-Rückkehr-Gesetz)“ (2019),

[4] Das Bundesministerium des Inneren (BMI) richtete beispielsweise 2014 zu diesem Zweck die Bund-Länder-Koordinierungsstelle „Integriertes Rückkehrmanagement“ beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein. Im März 2017 wurde das „Gemeinsame Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr“ (ZUR) von Bund und Ländern gegründet. Weitere Maßnahmen wurden im Februar 2017 auf der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossen und im Masterplan Migration des BMI 2018 avisiert.

[5] Die Zahl der ausreisepflichtigen Personen betrug (Mitte 2022) ca. 300.000 Personen. Sie lag im Jahr 2000 bei 200.000 und fiel zwischenzeitlich bis etwa 2010 korrelierend mit dem Zuwanderungssaldo auf ca. 100.000. Innerhalb dieser Gruppe findet eine große Fluktuation statt, so dass viele Menschen nur einige Zeit in diesem Status leben.

[6] Vgl. „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP” 2021, S. 140, Link: www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.Koalitionsvertrag, S. 140.

[7] Beispielsweise befanden sich etwa 15% der Ende 2021 als ausreisepflichtig gespeicherte Personen noch im Asylverfahren. Unter den etwa 10% ausreisepflichtigen Personen, die aufgrund eines Abschiebestopps geduldet waren, waren sehr viele aus Ländern, für die nie ein Abschiebestopp erlassen wurde, aber nur sehr wenige syrische Staatsangehörige, für die tatsächlich ein Abschiebestopp galt, vgl.: Bundestags-Drucksache 19/28234 vom 06.04.2021. Der „Beauftragte für Flüchtlingsmanagement“ Frank-Jürgen Weise stellte im „Leitfaden zur Verbesserung der Datenqualität im Ausländerzentralregister (AZR)“ vom 31. März 2017 so auch fest: „Somit bestehen bei über 25% der im AZR als ‚Ausreisepflichtige‘ geführten Personen erhebliche Zweifel, ob es um Fehleintragungen oder veraltete Informationen geht […] Fehlerhafte Datenbestände können die politische Berichterstattung und damit die öffentliche Rezeption der Flüchtlingsthematik negativ beeinflussen“, siehe Vorwort zur Kleinen Anfrage „Unklare Daten des Ausländerzentralregisters zu Ausreisepflichtigen“, vgl. BT-Drs. 18/12725 vom 14.06.2017.

[8] Im Jahr 2021 lag die Zahl der registrierten Ausreisen, also Abschiebungen (11.982) und staatlich geförderte Ausreisen (6.800) insgesamt bei 18.782, vgl. Überblick nach Jahren beim Mediendienst Migration

[9] Gesetzlich ist jeder Aufenthalt geduldet, wenn kein Aufenthaltsrecht besteht und die Abschiebung nicht vollzogen wird. Jedoch wird nicht immer eine Duldung ausgestellt, sondern z.B. eine sog. ”Grenzübertrittbescheinigung“. Das bedeutet jedoch nicht, dass ausreisepflichtige Personen ohne Duldung eher ausreisepflichtig sind, wie teilweise fälschlich angenommen wird.

[10] Bei vielen ausreisepflichtigen Personen spielen mehrere Duldungsgründe für die Aussetzung der Abschiebung eine Rolle. Statistisch berücksichtigt wird jedoch jeweils nur ein Grund. Bei Personen, die in der Kategorie „geduldet aufgrund fehlender Reisepapiere“ geführt werden, könnte der Aufenthalt aber auch mit gültigen Reisepapieren teilweise aufgrund weiterer Duldungsgründe nicht beendet werden. Auch die mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz neu eingeführte „Duldung aufgrund ungeklärter Identität“ (§ 60b AufenthG) berücksichtigt diese multiplen Gründe nicht. Ebenso fällt fast die Hälfte der Duldungen in den Bereich der „sonstigen Gründe“, sodass nicht erkennbar ist, warum eine Person seiner Ausreisepflicht nicht nachkommt oder nicht nachkommen kann, vgl. Bundestags-Drucksache 19/19333 vom 25.03.2020, S. 29f.

[11] Die politische Debatte darüber, inwiefern die Aufenthaltsbeendigung z. B. gut integrierter Personen auch politisch sinnvoll und humanitär vertretbar ist, hat in den vergangenen Jahren zur Einrichtung von Härtefallkommissionen gemäß § 23a AufenthG und zu sog. Altfall- und Bleiberechtsregelungen zum Beispiel gemäß § 18a, neu: 19d, oder § 25a und b sowie § 25 Abs. 5 AufenthG geführt.

[12] Zudem handelt es sich bei der Ausreise häufig nicht um eine Rückkehr, sei es da die Personen in Deutschland geboren sind oder wenn sie vorher in einem Drittland gelebt haben, in das sie nicht ausreisen. Auch der häufig verwendete Begriff „Reintegration“ im Zielland ist oft nicht zutreffend, da er voraussetzt, dass zuvor eine Integration stattgefunden hatte, was häufig nicht der Fall war.

[13] Beim REAG/GARP-Programm (Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany/Government Assisted Repatriation Programme) handelt es sich um ein humanitäres Förderprogramm.

[14] Bisher findet Abschiebungsbeobachtung ausschließlich an Flughäfen in Berlin und Brandenburg, NRW, Hessen (Frankfurt /M.) und Hamburg statt. Im Jahr 2022 fanden jedoch an insgesamt 16 Flughäfen in Deutschland regelmäßig Abschiebungen statt, siehe Deutscher Bundestag, Kleine Anfrage der Fraktion die Linke, Bundestagsdrucksache 20/3130, S.11, Link: https://dserver.bundestag.de/btd/20/031/2003130.pdf Zudem kann nur ein Teil der Abschiebung beobachtet werden. Darunter fallen menschenrechtlich sensible Situationen wie die Abholung zuhause oder eine mögliche Fixierung im Flugzeug in der Regel nicht.

[15] Vgl. Koalitionsvertrag 2021-2025 von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (Fn. 6), S. 112, Link

www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf

[16] Siehe hierzu BAGFW vom 24.03.2022, https://www.bagfw.de/veroeffentlichungen/stellungnahmen/positionen/detail/eckpunkte-fuer-die-einfuehrung-einer-bundesfinanzierten-behoer-denunabhaengigen-asylverfahrensberatung.

[17] Seit 2015 ist ein Anstieg der Abschiebehaft sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zu den Abschiebungen zu beobachten: 2015 gab es bei knapp 21.000 Abschiebungen (Bundesdrucksachen 18/7588, Frage 1 und 2) 1.850 Abschiebehaftfälle (entspricht 0,9%, Bundesdrucksache 19/05817, Frage 2), 2019 waren es bei 22.000 Abschiebungen (Bundestagsdrucksache 19/18201, Frage 1) 5.208 Abschiebehaftfälle (Bundestagsdrucksache 19/18201, Frage 1). Im Verhältnis von Abschiebehaft zu Abschiebungen fand eine Steigerung von 9% auf 23% statt. 2020 sind mit 10.800 Abschiebungen und etwa 3.100 Abschiebehaftfälle zwar vermutlich coronabedingt die absoluten Zahlen gesunken, aber der Anteil stieg weiter auf 28%. Dies steht im Widerspruch Grundsatz der Vermeidung von Haft bei Abschiebungen und Verhängung als „ultima ratio“. Des Weiteren unterscheidet sich auch die Praxis der Bundesländer deutlich: Während Bayern im Jahr 2020 bei 1558 Abschiebungen 836 Personen in Abschiebhaft nahm (53%), waren dies in Berlin bei 968 Abschiebungen nur 16 Personen (1,7%), sodass die Notwendigkeit der Abschiebhaft nicht immer gegeben zu sein scheint, vgl. Bundestagsdrucksachen 19/27007, Frage 10 und 19/31669, Frage 8.

[18] Siehe Positionspapier „Einführung einer Pflichtbeiordnung von Anwält:innen in der Abschiebungshaft“, Link: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2022-10/Positionspapier-Menschenrechtsorganisationen-Asylsuchende-Abschiebungshaft-Pflichtverteidigung-Oktober-2022.pdf.