Der Sozialraum als Ort der Teilhabe - Standortbestimmung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege

Nahezu alle sozialen Angebote und Dienste der Verbände der Bundesarbeitsge-meinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) stehen in einem unmittelbaren Sozialraumbezug und sind (potentiell) in die Netzwerkstrukturen der Nachbarschaften sowie der lokalen Akteure (Verbände, Dienstleister, Verwaltung) eingebunden.

1. Präambel

 

Nahezu alle sozialen Angebote und Dienste der Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) stehen in einem unmittelbaren Sozialraumbezug und sind (potentiell) in die Netzwerkstrukturen der Nachbarschaften sowie der lokalen Akteure (Verbände, Dienstleister, Verwaltung) eingebunden.

Aus dieser Einsicht heraus wollen die Wohlfahrtsverbände den Themen Sozialraumorientierung und Quartiersentwicklung im Rahmen ihrer Tätigkeit eine größere fachpolitische Rolle einräumen und den Blick auf die strukturellen Rahmenbedingungen und strategischen Entwicklungslinien des Sozialraums für die soziale Arbeit legen.

 

In der Standortbestimmung „Der Sozialraum als Ort der Teilhabe“ werden die Stärken und Chancen sozialraumorientierter Arbeit von freien Trägern der Sozialen Arbeit herausgearbeitet. Darüber hinaus werden Inhalte und Anforderungen der BAGFW sowohl an das Fachkonzept der Sozialraumorientierung zur Profilierung sozialer Fachdienste im Gemeinwesen als auch an gebietsbezogene Handlungsstrategien, wie sie im Rahmen einer nationalen Stadtentwicklungspolitik zur Anwendung gelangen, dargestellt.

 

Die Standortbestimmung gliedert sich in drei thematische Schwerpunkte:

·         Begriffsbestimmungen von Sozialraum, Sozialraumorientierung und Quartiers-entwicklung (Kapitel 2).

·         Sozialraum als Ort der Teilhabe und der strategischen Entwicklung - Bedeutung und Chancen für die Freie Wohlfahrtspflege (Kapitel 3).

·         Handlungsempfehlungen für die Freie Wohlfahrtspflege (Kapitel 4).

 

Mit dem vorliegenden Bericht möchte die BAGFW einen Beitrag zur fachpolitischen Diskussion leisten und bietet sich dafür als Gesprächspartnerin an.

 

 

2. Begriffsbestimmungen[i]

 

2.1 Sozialraum

Die Beschreibung des Sozialraums bezieht sich auf drei Aspekte:

 

Sozialraum als Erfahrungs- und Verhaltensraum

Menschen gestalten und erfahren ihre Lebenswelt durch ihre Kontakte und Aktivitäten in einem räumlichen Bezug. Der Sozialraum ist „[…] ein Raum, den ich kenne, in dem ich mich auskenne, in dem ich über Beziehungen verfüge, auch über Ressourcen, in dem es Probleme gibt; es ist der Raum, in dem ich konkret meinen Alltag bewältigen muss.“[ii]  „Sozialraum ist eine subjektive Kategorie die sich aus den sozialen Beziehungen und Netzwerken eines Menschen ergibt.“[iii]

 

 

 

Sozialraum als Engagement- und Versorgungsraum

Durch gesellschaftliche Mitbestimmung, politische Entscheidungen und nachfrageorientierte Steuerung entsteht ein sozio-kultureller Raum mit Angeboten für Bildung, Arbeit, Kultur, Sport und Soziales. Die Menschen gestalten ihren Lebensraum mit und setzen sich u.a. in Familie, Nachbarschaft, Schulen, Initiativen und Organisationen für bessere Lebensbedingungen und für die Gemeinschaft ein.

 

Sozialraum als politisch-administrativer Raum

Sozialraum ist ein von geografischen Gegebenheiten und von der öffentlichen Verwaltung definierter Siedlungsraum auf kommunaler Ebene. Er umfasst Kreise, Dörfer und Städte mit ihren Quartieren. „Sozialraum ist eine Stadtplanungs- und Verwaltungskategorie.“[iv] Sozialräume sind institutionalisierte Planungs- und Steuerungsräume mit einem klar umgrenzten Gebiet (vgl. örtliche Sozial- oder Jugendhilfe-planung).

 

Die drei Zugänge können sich überlagern. Die Grenzen des Sozialraums sind entsprechend fließend und werden von den jeweiligen Perspektiven und Bezügen der Menschen und der durch sie geprägten Institutionen bestimmt.

 

 

2.2 Sozialraumorientierung

Die Standards der Sozialraumorientierung sind geeignet, eine sozial- und fachpolitische Position der Freien Wohlfahrtspflege zu beschreiben.

Sozialraumorientierung als Haltung und Perspektive beinhaltet insbesondere eine Vorstellung davon, wie die vielfältigen Potentiale und Ressourcen der Menschen erkannt und für die Gesellschaft genutzt, wie Subsidiarität organisiert und wie sozialer Zusammenhalt und Solidarität nachhaltig unterstützt werden können.

Eine Umfrage unter den Fachausschüssen der BAGFW hatte ergeben, dass diese überwiegend die Sichtweise einnahmen, dass unter Sozialraumorientierung die Orientierung der sozialen Arbeit auf den Sozialraum zu verstehen sei. Dabei nehmen die einzelnen Handlungsfelder der sozialen Arbeit jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Perspektiven ein[v].

 

Für diese Standortbestimmung wird folgende Definition für Sozialraumorientierung zugrunde gelegt:

Sozialraumorientierung ist eine Handlungsoption der sozialen Arbeit, eine Fachperspektive als konzeptioneller Hintergrund der Sozialen Arbeit. Die Menschen erfahren in ihrem konkreten Umfeld Unterstützung, ihre Lebensqualität und Lebenssituation zu verbessern, sich für den Zusammenhalt untereinander zu engagieren und so ihren Sozialraum zu einem lebenswerten Ort zu entwickeln. Sozialraumorientierung verhilft Menschen dazu, ihr Recht auf selbstbestimmte Teilhabe einzulösen.

 

Sozialraumorientierung in diesem Sinne richtet sich an Standards aus, wie sie von Budde, Früchtel, Hinte u.a. beschrieben werden[vi]:

 

1) Interesse und Wille der Menschen als Ausgangspunkt

Im Mittelpunkt stehen die Bedürfnisse, der erklärte Wille der Menschen. Sie, die Betroffenen, Beteiligten und Interessierten handeln als Experten und Gestalter. Sie steuern maßgeblich ihre Sicht zur Analyse der konkreten Gegebenheiten, zur Auswertung der Befunde sowie zur Entwicklung von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation bei.

 

2) Eigeninitiative und bürgerschaftliches Engagement als starke Motoren

Die Entwicklung eines Sozialraums ist dann sinnvoll möglich, wenn sie von der Bevölkerung und weiteren Akteuren aktiv getragen wird. Es sind die Menschen selbst, die ein Interesse an ihrem Umfeld entwickeln, die sich für die Verbesserung von Lebensqualität einsetzen und gegen Eingriffe verteidigen. Sie ergreifen die Initiative und helfen sich selbst und anderen. Sie organisieren sich und fordern vor Ort von Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Kirchen und Verbänden Unterstützung ein. Aktivierende Arbeit hat Vorrang vor betreuender Tätigkeit.

 

3) Ressourcen im Sozialraum als Potenziale nutzen

Bei der Sozialraumorientierung werden die unterschiedlichen Ressourcen, die im Sozialraum verfügbar sind, genutzt. Einerseits die Ressourcen der Menschen und andererseits die Ressourcen weiterer Akteure des Sozialraums – etwa die dort vorgefundenen nachbarschaftlichen Beziehungen, sozialen Dienste, Schulen, Unternehmen, Kirchengemeinden oder die gesamte Infrastruktur, wie Bauten, Plätze und Parks sowie die Ressourcen der kommunalen Verwaltung. Probleme und Schwierigkeiten können umso leichter gelöst werden, wenn es gelingt, die Problemlösung in der Alltagswelt und in den sozialen Beziehungen der Menschen zu verankern. Jeder Mensch verfügt über Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die dazu beitragen können, die eigene Lebenslage oder auch die Lebenssituation von Mitmenschen zu verbessern. Je nach dem Bewusstsein der Selbstwirksamkeit ist dieses Wissen stärker oder schwächer ausgeprägt.

 

4) Zielgruppenübergreifender Fokus und Zusammenwirken aller Menschen im
    Sozialraum als Potenzial

Sozialräume müssen lebenswert für alle sein. Die Wohnbevölkerung eines Sozialraums ist in der Regel heterogen zusammengesetzt. Selbstverständlich sind aber auch von sozialer Ausgrenzung gekennzeichnete Wohngebiete mit einem hohen Anteil von Menschen mit individuellen Benachteiligungen Orte der Vielfalt. Veränderungen können nur auf langfristige Akzeptanz hoffen, wenn sie von Menschen unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrer kulturellen Herkunft, ihrem Bildungsstand und ihrer sozialen Lage mitgetragen werden.

Beim sozialraumorientierten Denken weitet sich der Blick vom Einzelfall ins Umfeld und in den Raum aus - vom Spezifischen zum Ganzen, ohne jedoch die Interessen und Bedarfe einzelner Menschen und der Akteure des Sozialraums aus dem Blick zu verlieren. Das Prinzip „Der Fall im Feld“ ist neben dem Grundprinzip vom „ Feld zum Fall“ gleichberechtigt zu berücksichtigen.

 

5) Bereichs- und sektorenübergreifende Kooperation und Vernetzung als

    Erfolgsfaktor

Sozialraumorientierte Arbeit nutzt die Kompetenzen und Ressourcen aller Sektoren und Bereiche, indem sie zwischen ihnen belastbare Kooperations- und Verbundstrukturen aufbaut und pflegt.

 

 

2.3 Gebietsbezogene Handlungsstrategien zur Quartiersentwicklung

Die Kommunen stehen vor zentralen Herausforderungen, die eine Fülle neuer Aufgaben mit sich bringen und neue strategische Ansätze fordern. Diese lassen sich etwa festmachen an der Steuerung einer alters- und familiengerechten, inklusiven Quartierentwicklung, an der Weiterentwicklung sozialer Infrastruktureinrichtungen

 

(wie Kitas zu Familienzentren, Schulen zu Stadtteilschulen, Dezentralisierung und Ambulantisierung von Komplexeinrichtungen), am Aufbau stadtteilbezogener Gesundheitsförderung oder an der Entwicklung lokaler Bildungsnetzwerke. Diese Herausforderungen vervielfachen sich, wenn es um die Stabilisierung und Entwicklung benachteiligter Stadtgebiete geht.

Zentrale Praxisfelder gebietsbezogener Handlungsstrategien zur Quartiersentwicklung sind die Städtebauförderung und die Stadterneuerung. Hierzu existieren verschiedene staatliche Programme - wie etwa die Nationale Stadtentwicklungspolitik, das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ oder die Programme Stadtumbau West und Ost. Der Städtebauförderung kommt eine große wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung zu. Gerade in städtischen und ländlichen Räumen mit strukturellen Schwierigkeiten kann sie einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung von Stadtteilen und Quartieren leisten, die für gesellschaftlich und räumlich ausgegrenzte Personengruppen aufwändige Integrationsleistungen zu erbringen haben. Damit trägt die Städtebauförderung zur Attraktivität und Zukunftsfähigkeit der Städte und Gemeinden als Wohn- und Wirtschaftsstandorte bei. Städtebauförderung fördert die Demographie gerechte Gestaltung insbesondere durch den Erhalt und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die verbesserte Ausstattung mit Einrichtungen, die der Gesundheit, Bildung und Integration dienen, der Barrierefreiheit oder der Begrünung des Lebensumfeldes und damit auch Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements eröffnen.

Stadtquartiere sollen an die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger angepasst werden - insbesondere der Familien und älterer Menschen. Sie müssen dazu dauerhaft in die Lage versetzt werden – infrastrukturell, materiell und ideell. Als Schlüsselakteure für die Quartiersentwicklung sind die Bürgerinnen und Bürger, die sozialen Einrichtungen und Dienste, Träger und Netzwerke, die lokale Wirtschaft, die zuständige Kommunalverwaltung und Politik Sozialraum kompetent zu stärken, zu qualifizieren und aufzustellen.

 

Zu den wesentlichen Kernelementen gebietsbezogener Handlungsstrategien zählen:

 

(1) Ausarbeitung eines gebietsbezogenen integrierten Entwicklungskonzepts

Das integrierte Entwicklungskonzept ist ein strategisches Planungs- und Steuerungsinstrument der Stadtentwicklung; es beruht auf der ganzheitlichen Betrachtung eines Gebiets (Stadt-/Ortsteil/Dorf). Mit seiner Hilfe können städtebauliche oder sozialräumliche Defizite und Anpassungserfordernisse für einen Stadtteil aufgezeigt und bearbeitet werden aber auch dazu beitragen, die vorhandenen Potenziale in den  Gebieten zu stärken. Integrierte Handlungskonzepte sollten über baulich-investive Maßnahmen hinausgehen. Sie haben den Stadtteil als Ganzes mit seinen ökonomischen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen und Entwicklungen in den Blick zu nehmen und ressortübergreifend die vorhandenen Ressourcen zu bündeln. Sie dienen als Basis für Beteiligungsprozesse im Quartier und sind geeignet, wichtige Partner/innen einzubinden.

 

(2) Vernetzung und Koordination der lokalen Akteure

Aufbau, Mobilisierung und Beteiligung lokaler Netzwerke/Stadtteilgremien bringen öffentliche und private, wirtschaftlich wie zivilgesellschaftlich engagierte Personen und Einrichtungen zusammen und ermöglichen so eine gemeinsame aktive Zusammenarbeit. Diese ist eine unabdingbare Voraussetzung für integrierte Entwicklungskonzepte.

 

 

(3) Ressortübergreifende Bündelung von Fördermitteln

Städtebauförderung im Sinne der Nationalen Stadtentwicklungspolitik hat das Ziel, verschiedene Bundes-, Landes-  und kommunale Förderprogramme ressortübergreifend zu bündeln und weitere Ressourcen für die Stadtentwicklung zu aktivieren. Hierzu werden auf kommunaler Ebene und in Verantwortung der Kommune Lenkungskreise eingerichtet, die frühzeitig die Bündelung der Mittel abstimmen und steuern, wodurch eine Effizienzsteigerung erreichbar ist.

 

(4) Einrichtung eines Stadtteil-/Quartiermanagements

Das Quartiermanagement soll im Stadtteil präsent sein und Bürger/innen darin unterstützen Aktivitäten in ihrem Stadtteil zu initiieren und damit positive Entwicklungen anzustoßen. Es führt die Vielfalt der oft unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse der Bewohner/innen zu gemeinsamen Vorhaben zusammen, fordert Schlüsselpersonen aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft zur aktiven Mitwirkung auf und moderiert die Abstimmungsprozesse. Die hierdurch entstehenden Netzwerke und die gemeinsame Herangehensweise an die Lösung von Problemen im Quartier sind das Erfolgsrezept des Quartiermanagements.

 

(5) Aktivierung und Beteiligung der Bewohner/innen

Soziale Aktivitäten und bürgerschaftliches Engagement finden in den Stadtteilen und Quartieren statt. Der Aufbau förderlicher Rahmenbedingungen stellt eine zentrale aber mitunter schwierige Aufgabe in benachteiligten Stadtteilen dar. Um alle Bevölkerungsgruppen für Entwicklungsprozesse im Stadtteil zu gewinnen, sind differenzierte aktivierende und identifikationsfördernde Strategien, Verfahren und Projekte notwendig. Über Gebietsbeiräte, Bürgernetzwerke, Kooperation mit Migrantenselbstorganisationen u.a.m. lassen sich förderliche Strukturen schaffen. Dabei begünstigt das Arbeitsprinzip der Gemeinwesenarbeit die nachhaltige Entwicklung und Verstetigung zivilgesellschaftlicher Orientierungen.

 

In der vergleichenden Betrachtung des Fachkonzepts Sozialraumorientierung und der gebietsbezogenen Handlungsstrategien gibt es verschiedene Schnittstellen und Überschneidungen insbesondere in einem „Mehr“ an integrierten Denkweisen und Konzepten, an ressort- und akteursübergreifenden Arbeitsformen, an Lebenswelt- und Stadtteilbezug, an Bewohnerorientierung und deren Beteiligung und ein „Mehr“ an Ressourcenorientierung wie Prävention und Stärkenarbeit.

 

 

3. Sozialraum als Ort der Teilhabe und der strategischen Entwick-
     lung - Bedeutung und Chancen für die Freie Wohlfahrtspflege

 

Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege sind in den Städten und Gemeinden mit ihren vielfältigen Diensten und Einrichtungen vor Ort präsent. Mit diesen leisten sie in den Stadtteilen und Quartieren einen nachhaltigen Beitrag zur Sicherung einer verlässlichen sozialen Infrastruktur in allen Regionen Deutschlands. Mit ihrer verbandlichen Präsenz in den Regionen, die sich überwiegend bis auf die Ortsebene erstreckt, sind sie in sozialräumliche Kommunikations- und Netzwerkstrukturen eingebunden. Vielerorts prägen die Wohlfahrtsverbände den sozial- und kulturpolitischen Diskurs in den lokalen Gemeinwesen maßgeblich mit.

 

 

 

Freie Wohlfahrtspflege als Zivilgesellschaftlicher Akteur

Die Freie Wohlfahrtspflege ist nicht nur Dienstleister am Individuum unmittelbar vor Ort; vielmehr ist sie durch ihre zivilgesellschaftliche Bindung in sozialräumlich verfasste Strukturen (Kirchen-/ Pfarrgemeinde, Ortsverein/-verband, lokale Initiative, Selbsthilfegruppe etc.) ein wesentlicher Basisakteur. Sie wird in ihrer anwaltlichen und auch intermediären Rolle wahrgenommen für die Verbesserung der sozialen Belange insbesondere von Menschen mit Hilfebedarf und deren lokalen Kontexte. 

Die Freie Wohlfahrtspflege arbeitet nicht gewinnorientiert sondern gemeinwohlorientiert. Sie ist den Menschen in ihren spezifischen Lebenslagen sowie Lebenswelten verpflichtet. Sie agiert in den konkreten Sozialräumen, um individuelle und strukturelle Rahmenbedingungen positiv zu verändern. Dieses sozialpolitische Mandat  setzt ihre Verankerung in lokalen Politikstrukturen voraus.

 

Freie Wohlfahrtspflege als Teil des „kommunalen Sozialstaats“

Die Freie Wohlfahrtspflege ist entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip konstitutiver Teil des „kommunalen Sozialstaates“. Entsprechend den Vorgaben der Sozialgesetzbücher gestaltet sie den politischen Fachdiskurs durch Mitarbeit in den entsprechenden Fachgremien (z. B. Jugendhilfeausschüsse, Sozialkommissionen, Begleit-ausschüsse). Die Kooperation der Wohlfahrtspflege mit der Städtebauförderung hat im Vergleich zu anderen Handlungsfeldern nicht überall Tradition. Gerade wenn es um die sozialräumliche Weiterentwicklung von Quartieren geht, kann die Wohlfahrtspflege sich jedoch mit ihrer Kompetenz gezielt einbringen.

Durch ihre örtliche Präsenz prägen die Wohlfahrtsverbände den sozialpolitischen Diskurs und sind als „Träger öffentlicher Belange“ gefragt, insbesondere soziale Belange in Planungs- und Abwägungsprozesse einzubringen. Ihr anwaltliches Mandat für Menschen in besonderen Lebenslagen macht sie unverzichtbar als wichtige Akteure in der allgemeinen und fachbezogenen Sozialplanung auf kommunaler und quartiersbezogener Ebene.

 

Freie Wohlfahrtspflege als Fachinstanz für soziale und kulturelle Belange

Die Freie Wohlfahrtspflege hat durch ihre ausdifferenzierten fachspezifischen Ansätze ein breites Spektrum an Knowhow, welches für Sozialraumorientierung und integriertes Handeln im Quartier abgerufen werden kann. Durch Fachbereichs- und zielgruppenübergreifendes Handeln in den Stadtteilen und Quartieren bestehen vielfältige Möglichkeiten diese unterschiedlichen Ressourcen zu bündeln und so Synergien zu erzielen. Das erfordert Offenheit bei allen beteiligten Akteuren – der Freien Wohlfahrtspflege aber auch der kommunalen Sozial- und Städtebauverwaltung, der lokalen Wohnungswirtschaft und weiteren Akteuren. Hierdurch kann ein „Mehr“ an integrierten Denkweisen und Konzepten, an ressort- und akteursübergreifenden Arbeitsformen, an Lebensweltorientierung und Stadtteilbezug im Sinne der Menschen entstehen. Für die Freie Wohlfahrtspflege bieten sich dadurch Chancen, einen ganzheitlichen und lebensweltbezogenen Ansatz weiterzuentwickeln.

Vielerorts bringt sich die Freie Wohlfahrtspflege in lokale, sozialraumbezogene Verbundaktivitäten (Stadtteilkonferenzen, quartiersbezogene Runde Tische und Abstimmungskonferenzen etc.) ein oder ist selbst Träger von Gemeinwesenarbeit und Gemeinwesen orientierten Projekten. Häufig übernimmt sie eine Schlüsselrolle indem sie etwa Quartiermanagementverfahren koordiniert (Soziale-Stadt-Standorte).

 

 

Freie Wohlfahrtspflege als Akteur in Teilhabeplattformen vor Ort

Durch die Verankerung der Akteure der Freien Wohlfahrtspflege in Vor-Ort-Struk-turen besteht ein großes Potential für die Entwicklung und Einbindung von Partizipationsprozessen und somit zur Schaffung von Teilhabeplattformen in den lokalen Gemeinwesen.

Durch die Mitwirkung von Betroffenen werden lokale Bedarfe erkennbar und können besser umgesetzt werden. Es bieten sich Chancen zur Bereitstellung niederschwelliger Angebote und zur Weiterentwicklung bedarfsgerechter Angebote. Durch aktive Gestaltung von Empowermentprozessen kann die Freie Wohlfahrtspflege lokaler Innovationsmotor sein und lebendige Nachbarschaften befördern.

Hierdurch lässt sich „lokales Kapital für soziale Zwecke“ generieren - Potential zur Eröffnung von Teilhabechancen, zur Organisation von Gemeinschaftsleben, nachbarschaftlicher Unterstützung und bedarfsgerechter Versorgung. Auch bieten sich Chancen zur Umsetzung von Inklusion vor Ort

 

Freie Wohlfahrtspflege als Bereitsteller von Ressourcen

Trotz eingeschränkter Eigen- bzw. Trägermittel stellt die Freie Wohlfahrtspflege vielerorts die Grundausstattung und Basisstrukturen für lokale Projektarbeit bereit. Durch die Generierung von Sozialkapital, das häufig erst durch die Verknüpfung von Ehrenamt und Hauptamt entsteht, kann Bürgerengagement in Verbands- und Projektarbeit zu einer kontinuierlichen personellen Ressource werden, die in lokale Gemeinwesenstrukturen eingebunden ist.

Auch bieten sich häufig vielfältige Nutzungsmöglichkeiten von in den Quartieren vorhandenen Infrastruktureinrichtungen und Raumangeboten freier Träger. Durch die Öffnung der Einrichtungen in die Sozialräume und soweit möglich deren flexible Nutzung über Zielgruppen und fachliche Zuständigkeiten hinaus entstehen Quartiersanreize, die neues Miteinander ermöglichen und Gemeinwesen bezogene Kooperation fördern können.

 

Freie Wohlfahrtspflege als Garant zur Sicherung nachhaltiger Strukturen

Durch die fast lückenlose verbandliche Präsenz der Freien Wohlfahrtspflege in den Regionen mit unterschiedlich ausgestatteten, oft aus Eigenmitteln finanzierten Basisstrukturen ist die kontinuierliche Mitgestaltung von Entwicklungsprozessen vor Ort möglich und wird auch praktiziert. Zusammen mit Partnern vor Ort sind sie mancherorts auch federführend bei der lokalen Sozialplanung und Konzeptentwicklung beteiligt. Gleiches gilt auch für Prozesse der Evaluation/Monitoring/Qualitätssicherung. Längerfristig bereitgestelltes Fach-Knowhow ermöglicht nachhaltiges Handeln.

 

 

4. Handlungsempfehlungen für die Freie Wohlfahrtspflege

 

Wenn die Wohlfahrtsverbände in ihrem Handeln das Prinzip der Sozialraumorientierung ernst nehmen wollen, hat dies Auswirkungen auf ihr Selbst- und Handlungsverständnis sowie auf ihre Strukturen und ihr Management:

 

 

 

 

 

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege müssen an ihren vorhandenen Stärken ansetzen und diese ausbauen

Dies bedeutet:

·         Im Verständnis der Verbände ist das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen der Ausgangspunkt für die angebotenen Dienstleistungen.

·         Die Menschen werden mit ihren Interessen, Gruppierungen und Sozialräumen umfänglich in die verbandliche Arbeit vor Ort eingebunden. Gemeinsam mit den Beteiligten werden Bündnisse und Netzwerke aufgebaut und Mittel zur gemeinsamen Verfügung bereitgestellt (z. B. durch Einrichtung lokaler Verfügungsfonds).

·         Das Gemeinsame ist mehr als die Summe der Einzelteile. Träger- und Arbeitsfeld übergreifend werden Kompetenzen gebündelt, um Ressourcen zu erschließen und Synergien sozialräumlich zu erkennen und herzustellen.
Um zukunftsfähig zu bleiben, müssen Innovationen gefördert und Neues ausprobiert werden.

·         Die Sensorfunktion für die Bedarfe der Menschen im Quartier muss geschärft und aktiv wahrgenommen werden.

·         Die intermediäre Rolle der Wohlfahrtsverbände in der Gesellschaft entscheidet sich am Ort der Hilfesuchenden – wie können Hilfen bedarfsorientiert und das Selbsthilfepotenzial der Adressaten stärkend bereitgestellt werden?

·         Strukturen und Finanzierungswege der Verbände werden transparent gestaltet, um politisch glaubwürdig zu bleiben und als solches wahrgenommen zu werden.

·         Innerverbandliche Interessen werden zugunsten gemeinsamer Ziele und Aktionen zusammengeführt.

·         Die politische Lobbyarbeit ist für den Anspruch und für die Belange der Sozialraumorientierung zu organisieren und zu pflegen. Dabei gilt es Handlungsfähigkeit gegenüber der Politik zu entwickeln. Verbände übergreifend sind Kooperationen mit Politik und Verwaltung einzugehen und dies auch bei bestehender Konkurrenz im Handlungsfeld Sozialer Arbeit.

 

Konzepte der Sozialen Arbeit müssen durch eine Philosophie der offensiven Sozialraumorientierung ergänzt werden

Dies bedeutet:

·        Die Sozialraumorientierung ist strategischer Kernbestandteil aller sozialen Aktivitäten. Sie wird als eine Fachperspektive verstanden und in vorhandene bzw. neue Handlungskonzepte integriert.

·        Die Menschen und ihre Wohnquartiere sind als Ressourcen zu sehen und ihre Potenziale zielgerichtet in das Grundverständnis und in die Ansätze sozialen Handelns einzubeziehen.

·        Zivilgesellschaftliches Engagement muss unterstützt und konstruktiv eingebunden werden - ebenso die Selbstorganisation und Mitbestimmung der Betroffenen.

·        Ganzheitlich angelegte Handlungskonzepte führen unterschiedliche Handlungsansätze zusammen; ihre Umsetzung erfolgt im Rahmen integrierter Entwicklungskonzepte auf lokaler Ebene.

·        Individuelle Wahlfreiheit in der Nutzung sozialer Dienstleistungen muss gefördert werden.

·        Inklusion wird als Grundprinzip sozialen Handelns verstanden.

·        Lokale Sozialpolitik geht jeden etwas an. Gestalter und Adressaten der sozialen Dienste übernehmen gemeinsam sozialraumbezogene Verantwortung.

 

 

Sozialraumorientierung bietet erweiterte Handlungsperspektiven für die soziale Arbeit

Dies bedeutet:

·         Sozialraumorientierung ist ein Mehrwert an sich, der nicht als Einsparinstrument für Kommunalhaushalte und nicht zum Abbau sozialer Infrastruktur geeignet ist und benutzt werden darf.

·         Sozialraumorientierung ist eine zukunftsweisende Option; sie kann dem Subsidiaritätsprinzip zu neuer Geltung verhelfen. Die Aufgaben öffentlicher und freier Träger sozialer Arbeit sind durch Partnerschaft und gegenseitiges Vertrauen gekennzeichnet und dem Wohl der Adressaten verpflichtet.

·         Sozialraumorientierung ist in ihrer Form als zivilgesellschaftliches Engagement und als Eigeninitiative zur Verbesserung des sozialen Raums immer ergänzend und nicht stellvertretend für hauptamtliche Dienstleistungen zu sehen.

 

Sozialraumorientierung muss in den eigenen Strukturen der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege verankert werden

Dies bedeutet:

·           Es gilt eine horizontale und fachbereichsübergreifende Verständigung, Abstimmung und Vernetzung in der eigenen Trägerstruktur zu fördern - jeweils auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene.
Die Handlungsoption Sozialraumorientierung hat die Versäulung der Aufgabenwahrnehmung zu überwinden, arbeitsfeldbezogene Strategien zur Sozialraumorientierung sind zu synchronisieren und Personalentwicklungsstrategien zu entwickeln.

·           Träger- und Akteurs übergreifende fachliche Strukturen müssen auf allen Ebenen entwickelt, überprüft und ggfls. neu aufgebaut werden.

·           Zur glaubwürdigen Umsetzung einer sozialraumorientierten Handlungsstrategie müssen die Verbände in ihren horizontalen und vertikalen Strukturen Selbstverpflichtungen eingehen.

·           Mitarbeiter/innen aus allen Handlungsfeldern und auf allen Trägerebenen müssen für sozialräumliches Denken und Handeln qualifiziert werden. Hierfür werden Ressourcen benötigt.

·           Chancen und Risiken der Sozialraumorientierung sind gezielt auszuarbeiten – etwa in Abgrenzung zu Teilhabe, Inklusion, Daseinsvorsorge, Interkulturelle Öffnung oder Gemeinwesenarbeit.

·           Finanzielle Investitionen in und Vorleistungen für präventive, fallunspezifische Arbeiten müssen investiert werden  – etwa durch Quer- und Mischfinanzierung, Kostenträger, Verfügungsfonds, kommunale (Sozialraum-)Budgets, Förderprogramme.

·           Sozialraumorientierung bedarf einer politischen Perspektive mit einem gemeinsamen Ziel und Kooperationspartnern auf unterschiedlichen Ebenen. Ansatzpunkte über nationale Pläne sind hierbei zu nutzen (etwa Nationaler Aktionsplan zur UN-Behindertenrechtskonvention).

 

Berlin, im März 2015



[i] Vgl. u.a. <link http: www.caritas.de glossare sozialraumorientierung>Deutscher Caritasverband e.V., 2011: Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit, in: Neue Caritas 8/2011 und: Solidarität im Gemeinwesen – Eckpunkte zur Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit, in: Neue Caritas 11/2013, in: <link http: www.caritas.de glossare sozialraumorientierung>www.caritas.de/glossare/sozialraumorientierung

<link http: www.kirche-findet-stadt.de pdf downloads kfs-dokumentation-2013_web.pdf>Kirche findet Stadt - Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteur in sozial-kulturellen und sozial-ökologischen Netzwerken der Stadtentwicklung - ein ökumenisches Kooperationsprojekt, in: <link http: www.kirche-findet-stadt.de pdf downloads kfs-dokumentation-2013_web.pdf>www.kirche-findet-stadt.de/pdf/downloads/KfS-Dokumentation-2013_web.pdf, Februar 2013

[ii] Jamberger, Matthias, 2000: Lebensweltorientierte Jugendliche und das Arbeitsprinzip Sozialraumorientierung, in: Evangelischer Erzieherverband EREV, Jugendhilfe im Sozialraum.

[iii] Beck, Iris, Franz, Daniel; 2007, Sozialraumorientierung in der Behindertenhilfe – Empfehlung und Handlungsansätze für Hilfeplanung und Gemeindeintegration. (DHG Schriften 13) Hamburg/Jülich

[iv] ebd.

[v] Die Auswertung der Umfrage ist unter dem Titel „Fachliche Bedeutung und Mehrwert der Sozialraumorientierung für die einzelnen Arbeitsfelder der BAGFW-Verbände – Ergebnisse einer Befragung“ über die BAGFW-Geschäftsstelle zu beziehen (E-Mail: <link>info@bag-wohlfahrt.de).

[vi] Wolfgang Budde, Frank Früchtel, Wolfgang Hinte (Hrsg.) 2006: Sozialraumorientierung. Wege zu einer veränderten Praxis. VS-Verlag, Wiesbaden