Gemeinsame Stellungnahme von BAGFW und NAK zum Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat ihren Zweiten Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt und damit den Beschluss des Bundestages vom 19. Oktober 2001 umgesetzt.

Die Bundesregierung hat ihren Zweiten Nationalen Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt und damit den Beschluss des Bundestages vom 19. Oktober 2001 umgesetzt. Der Bericht enthält im Teil A eine Analyse von Armut und Reichtum in Deutschland und be­trachtet dabei erstmals in eigenen Kapiteln die Lebenslagen von Menschen in extremer Armut sowie die Partizipationschancen armer Menschen. Teil B enthält politische Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung.

 

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und die Nationale Armutskonferenz (NAK) begrüßen den Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht, weil er einen konstruktiven Beitrag zur Auseinandersetzung über die sozialen Lebenslagen in Deutschland leistet.

 

Leider zeigt die Analyse der einzelnen Berichtsteile, dass der Bericht unter dem Eindruck steht, die Reformpolitik der Bundesregierung zu rechtfertigen. Dies kommt u. a. in den Vermischungen zwischen Analyse und politischen Bewertungen zum Ausdruck. Deshalb ist es angezeigt, Teil A mit den Fakten und Analysen künftig in die Hände eines unabhängigen Sachverständigenrats zu legen. Dies wäre ein Verfahren, das bei der Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung durch den Sachverständigenrat oder auch beim Kinder- und Jugendbericht erprobt ist. Auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Gutachtens mit empirischen Erhebungen unter Einbeziehung der Erfahrungen von Wohlfahrts- sowie Betroffenenverbänden kann dann eine sachlich-konstruktive öffentliche Auseinandersetzung zur Verbesserung der sozialen Lage in Deutschland erfolgen.

 

Darüber hinaus muss der Armuts- und Reichtumsbericht auch einen intensiven Diskussionsprozess im Deutschen Bundestag zur Folge haben. Es ist zu hoffen, dass der Bericht nicht nur bei Sozialpolitikern/innen, sondern auch bei Finanz-, Wirtschafts- oder Innenpolitikern/innen einen höheren Stellenwert als der erste Bericht erfährt. Wir erwarten auch, dass die Bundes- und Landespolitik dem Bericht die notwendige Aufmerksamkeit widmet und seine Folgerungen in einen intensiven politischen Diskurs münden.

 

Bei der Veröffentlichung des aktuellen Berichts erwartet die BAGFW, dass in geeigneter Form auch alle 27 vergebenen Einzelgutachten der Öffentlichkeit zeitnah zugänglich gemacht werden.

 

Um seinem Anspruch gerecht zu werden, auch ein Reichtumsbericht“ zu sein, leistet der Bericht zwar eine differenzierte Darstellung der Vermögensentwicklung, es fehlt aber eine entsprechend differenzierte Darstellung der Einkommensentwicklung und der zunehmenden Einkommensungleichheit. Es wird auch keine Antwort darauf gegeben, wie dem Trend wachsender Einkommens- und Vermögensungleichheit begegnet werden soll.

 

Fortschritte macht der Bericht jedoch bei der Beschreibung von Armut. Die Bundesregierung verwendet eine Armutsdefinition, die den Begriff der Teilhabe- und Verwirklichungsgerechtigkeit“ auf Basis der Forschungsarbeiten des Ökonomen Amatya Sen beinhaltet.[1] Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und die Nationale Armutskonferenz begrüßen diesen Ansatz, der in Verbindung mit dem Lebenslagenansatz eine gute Grundlage für die Analyse von Armut und sozialer Ausgrenzung bietet. Leider wird sowohl die Wahrnehmung multidimensionaler Ausgrenzung in verschiedenen Lebenslagen wie auch die Verteilung von Verwirklichungschancen in den einzelnen Berichtsteilen nicht konsequent und kontinuierlich aufgenommen.

 

BAGFW und NAK würdigen, dass der Bericht erstmals die Lebenslagen von Menschen in extremer Armut sowie die Verteilung von Partizipationschancen in Politik und Gesellschaft beleuchtet.

 

Insgesamt ergeben die Einzelkapitel ein – zugegeben nur sehr grobes – Bild der realen Probleme von Menschen in besonderen Lebenslagen:

  • Die Wohlfahrtsverbände und die Nationale Armutskonferenz halten den Regelsatz für eine wesentliche sozialpolitische Größe. Allerdings haben bei der Neufestsetzung der Regelsätze finanzpolitische Argumente eine Anpassung verhindert. Deshalb wird teilweise angezweifelt, ob der Regelsatz derzeit tatsächlich noch vor Armut schützt. Leider trifft der Armuts- und Reichtumsbericht hierzu keine Aussagen. Deshalb sollte der Regelsatz zukünftig von einer unabhängigen Sachverständigenkommission hinsichtlich seiner Bedarfsdeckung überprüft und in einem transparenten Verfahren festgelegt werden.
  • Die Diskriminierung älterer Arbeitsloser und deren Folgen für die Armutsentwicklung muss mehr herausgestellt werden.
  • Das Phänomen der „Working Poor“, also Armut bei Erwerbstätigkeit, muss insbesondere bei Familien mit Kindern und Alleinerziehenden stärker beleuchtet werden.
  • Der Tatsache der immer noch steigenden Armutsrisikoquote von Familien mit Kindern muss mit einer Verbesserung des Familienleistungsausgleichs begegnet werden.
  • Gleicher Zugang zu Bildung ist die beste Prävention gegen Armut. Die Reformpolitik der Bun­desregierung muss deshalb noch stärker als bislang ihre Akzente auf die Bildungspolitik setzen. Insgesamt sind der Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten für Kleinstkinder, die Ver­besserung der Bildungschancen im Kindergarten erste Schritte. Die Länder müssen zu einer Modernisierung der Primarstufe dringend aufgefordert werden.
  • Der Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit muss, insbesondere bei Kindern und Menschen in extremer Armut, wie z. B. Wohnungslosen, intensiver analysiert werden. Schlüssige Antworten darauf, wie Kostenentlastungen oder kostenfreie Zugänge zum Gesundheitssystem, fehlen bislang.

 

  • Bei der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund sind vor allem die Probleme der über 500.000 in Deutschland lebenden Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus darzustellen. Die Integrationsprobleme der Aussiedler sollten ebenfalls stärker einbezogen werden.

 

Zu dem Teil B des Berichts „Maßnahmen der Bundesregierung“ ist zu bemerken, dass die Sozialreformen der letzten Jahre nicht nur dem Ziel dienten, die sozialen Sicherungssysteme effizienter und zielgenauer auszurichten, sondern auch von den Finanzierungsproblemen beeinflusst waren. Im Sinne der Nachhaltigkeit waren so auch Absenkungen bzw. Einstellungen von Leistungen aus Sicht von Regierung und Parlament notwendig. Hier darf nicht verschwiegen werden, welche neuen Prozesse sozialer Ausgrenzung insbesondere durch die Kumulation verschiedener Benachteiligungen entstehen könnten (z. B. bei der gesundheitlichen Versorgung von Wohnungslosen).

 

Zur Würdigung des Zweiten Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung und zum Thema Armut weisen BAGFW und NAK auf die einzelnen Stellungnahmen bzw. Fachinformationen ihrer Verbände hin, welche unter folgenden Internetadressen abrufbar sind:

- Arbeiterwohlfahrt – Bundesverband: www.awo.org

- Deutscher Caritasverband: www.caritas.de

- Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband: www.paritaet.org

- Deutsches Rotes Kreuz – Generalsekretariat: www.drk.de

- Diakonisches Werk der evangelischen Kirche in Deutschland: www.diakonie.de

- Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland: www.zwst.org

- Nationale Armutskonferenz: www.nak.de

 


[1] Begründung: Der Lebenslagenansatz/multidimensionale Armutsbegriff lag bereits dem 1. Armuts- und Reichtumsbericht zugrunde